Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Verbindung mit Fahrerassistenzsystemen findet inzwischen immer mehr Einsatz. Ein weiterer, spannender Einsatz für KI liegt im People Sensing: Beim Betreten von Geschäften oder von Bussen und Bahnen erkennt eine Kamera die eintretenden Personen via Bildverarbeitung. Der Vorteil? Geschäfte zum Beispiel behalten den Überblick, wie viele Menschen sich im Laden aufhalten und können ggf. den Einlass stoppen. Gerade zu Coronazeiten ist dies eine besonders notwendige Technologie. Das Berliner Unternehmen HELLA Aglaia stellt in diesem Bereich hochpräzise Personenzählgeräte her. Zum Portfolio gehören außerdem Fahrerassistenzsysteme und weitere spannende KI-Lösungen. Wir sprachen mit Geschäftsführer und Ur-Berliner Kay Talmi.
Lieber Herr Talmi, HELLA Aglaia bietet als Tochterfirma des Autozulieferers HELLA eine Vielzahl an technischen und intelligenten Lösungen. Wie kam es zu der Ausgründung? Wie ist Ihr persönlicher Werdegang?
Tatsächlich war es keine Ausgründung, sondern ein Kauf durch HELLA. Aglaia wurde 1989 gegründet mit der Mission, den Alltag der Menschen durch visuelle Sensorlösungen einfacher und sicherer zu gestalten, in dem man – vereinfacht ausgedrückt – Maschinen das Sehen ermöglicht. Ein Meilenstein war die Serienproduktion der „Blind Spot Detection“ zur Überwachung des toten Winkels. Bis 2006 ist Aglaia auf rund 30 Mitarbeiter*innen gewachsen.
Nach der Übernahme durch HELLA im Jahr 2006 entstanden mit der Entwicklung einer Frontkamera für Fahrzeuge weitere sicherheitsrelevante Funktionen wie Verkehrszeichenerkennung, Fernlicht- und Spurhalteassistenz. Von Anfang an hat HELLA uns intensiv unterstützt und mit uns zusammen die Firma und das Portfolio ausgebaut. Inzwischen sind wir auf 450 Mitarbeiter*innen gewachsen. Rückblickend ist die Zusammenarbeit mit HELLA eine sehr schöne Symbiose, die mich stolz und dankbar macht.
Ich selbst habe Informatik an der TU Berlin studiert. Danach habe mich zunächst mit einer Firma mit dem Thema Bildverarbeitung selbstständig gemacht. Neben meiner Tätigkeit als Geschäftsführer war ich dort verantwortlich für die Planung und Umsetzung von Bildverarbeitungsprojekten im Bereich Mensch-Maschine-Interaktion: Über eine Kamera ließ sich der PC bedienen, zum einen zum Steuern von Spielen, zum anderen aber auch als eine Interaktionsmöglichkeit für Schwerbehinderte. Die Idee war spannend, aber 1997 war es leider noch viel zu früh für dieses Thema. Anschließend habe ich unter anderem für eine Fingerabdruckerkennungsfirma in Berlin gearbeitet.
2004 bin ich zu Aglaia gewechselt und war zunächst verantwortlich für die Produktionseinführung des Blind Spot Detection-Systems (BSD) und bald für die gesamte Entwicklung. Seit Dezember 2009 bin ich Geschäftsführer des Unternehmens. Dank meines Backgrounds bin ich nach wie vor sehr tief in unseren Themen involviert.
Eine Ihrer Lösungen nennt sich „People Sensing“ und lässt sich u. a. für das Zählen von Kundschaft in Geschäften einsetzen – gerade zu Corona-Zeiten eine praktische Lösung. Wie genau funktioniert die Künstliche Intelligenz, die dahintersteckt?
People Sensing nennt sich unser Geschäftsbereich, der sich seit über 10 Jahren mit automatisierter Personenzählung im Einzelhandel und Personennahverkehr beschäftigt. Das Zählen von Menschen funktioniert nicht ausschließlich über Künstliche Intelligenz, sondern in erster Linie über Bildverarbeitung. Eine Videokamera ist mit zwei Kameras, die wie zwei Augen funktionieren, ausgestattet. Diese wird an die Decke montiert und bildet die darunterliegende Welt dreidimensional ab. Die Menschenmenge kann man sich hier wie einen Wald vorstellen, in dem die Köpfe wie Baumkronen gesehen werden. Die Kamera kann durch die 3D-Informationen diese Baumkronen in einem Bereich von mehreren Metern, ca. 6x6 Meter, sehr präzise erkennen und verfolgen. Durch die Verkettung mehrerer Kameras kann dieser Bereich sogar auf mehr als 500 qm erweitert werden. KI wird dann genutzt, um das Ganze sicher zu machen und sehr präzise zu tracken.
Oft haben wir die Herausforderung, dass andere Objekte mit im Bild sind, etwa, wenn Personen einen hohen Rucksack oder einen Schirm tragen, die zunächst auch als Baumkronen erkannt werden. An dieser Stelle kann die KI dann sehr präzise erkennen, was auf der Kamera eigentlich zu sehen ist, und erzielt dadurch qualitativ hochwertige Ergebnisse.
Das Ganze machen wir nicht nur im im Einzelhandel oder öffentlichen Gebäuden, sondern zum Beispiel auch im Bus- und Bahnbereich, wo es eine sehr große Anforderung von bis zu 99 Prozent Zählgenauigkeit gibt. Wenn zum Beispiel eine Schulklasse in einen Bus hineingeht und viele der Schüler*innen tragen Rücksäcke oder Schirme, dann müssen unsere Sensoren im Durchschnitt diese 99 Prozent erreichen. Dies schaffen wir vor allem durch unsere smarten KI-Algorithmen
In welchem Bereich kommt Ihr People Sensing vorrangig zum Einsatz?
Wir sind seit über zehn Jahren sehr stark im Bus- und Bahnbereich vertreten und sind dort weltweit einer der Marktführer. Im Einzelhandel nimmt das Thema, auch wegen Corona, derzeit an Fahrt auf. Aktuell gibt es in Geschäften unter anderem die Anforderung, dass sich pro 10 qm Fläche nur ein Mensch im Laden aufhalten darf, was im Grunde nur über ein Zählsystem präzise gemessen werden kann. Daher erreichen uns zur Zeit sehr viele Anfragen. So benötigen Geschäfte zum Beispiel eine Zutrittskontrolle oder eine sogenannte „Ampel-Funktion“, die bei dem erreichten Limit an Personen im Geschäft dann auf Rot springt. Hier arbeiten wir mit einem großen Netzwerk an Partnern zusammen, die unsere Personenzählsensoren übernehmen und dann zum Beispiel ein solches Ampel-System bauen und dieses anschließend in Handelsketten integrieren.
Inwieweit ersetzt Ihre Lösung Personal und an welchen Stellen können KI und Mensch damit noch besser zusammenarbeiten?
Die reine Zählfunktion an der Tür lässt sich komplett durch unsere Sensoren ersetzen. Vor allem, wenn sehr viele Menschen auf einmal in ein Geschäft oder einen Bus hineinlaufen, wird es für einen Menschen fast unmöglich, diese exakt zu zählen. Eine Maschine hingegen schaut von oben darauf und kann neutral rund um die Uhr und in Echtzeit zählen.
In vielen Bereichen, in denen unser „Counter“ eingesetzt wird, findet allerdings ein Zusammenspiel aus Mensch, der die Ergebnisse auswertet und Schlussfolgerungen zieht, und der Maschine statt. KI und Mensch ergänzen sich hier optimal.
Wie wird mit den Daten, die durch das „People Sensing“ aufgenommen werden, umgegangen? Wie wird der Datenschutz gewährleistet?
Ein großer Vorteil unseres Systems ist, dass wir keinerlei Daten, sprich keine Bilder, aufnehmen. Diese Angst besteht häufig und wir führen immer wieder Gespräche mit unseren Kund*innen, können ihnen die Angst aber komplett nehmen. Durch die 3D-Informationen, die unsere Sensoren aufnehmen, haben wir nur die Höhe und die Bewegungsrichtung als Information,, aber kein Bild der Person. Zudem wird jede Information nur einmal ausgewertet, also gezählt, und danach wieder weggeworfen. Die Privatsphäre ist maximal gesichert.
Neben Ihren Personenzählersensoren vertreiben Sie unter anderem auch Fahrerassistenzsysteme, die nun an VW verkauft wurden. Wie funktioniert diese Software und welche Vorteile bringt sie mit sich?
Bei diesem System haben wir einen sehr großen Einsatz von KI, also von neuronalen Netzen, die verschiedene Objekte erkennen. Unter anderem haben wir die so genannte Spurenkennung im Portfolio: Wenn Sie beim Fahren eines Autos beispielsweise die Hände vom Lenkrad nehmen, bleibt das Auto trotzdem auf der Mitte der Spur. Das ist mittlerweile sehr verbreitet.
Unser zweites Thema ist Verkehrszeichenerkennung: Die KI erkennt hier die aktuelle geltende Geschwindigkeitsbegrenzung. Navigationssysteme erkennen diese zwar bis zu einem gewissen Grad, aber wenn zum Beispiel Baustellenschilder auftauchen, erkennt die Frontkamera dies viel eher als das Navi. Im Zusammenspiel mit dem Navi kann dann also zum Beispiel die Einhaltung der aktuellen Geschwindigkeitsbegrenzung realisiert werden.
Die dritte Funktion, die wir umsetzen, ist die Fußgänger*innenerkennung. Diese Funktion ist sehr wichtig und hat einen hohen Sicherheitsanspruch. Das Auto bremst in der Ausprägung auf die Fußgänger*innen, teilweise bis zur Vollbremsung. Mit Hilfe von KI und neuronalen Netzwerken werden die Fußgänger*innen dann erkannt.
Bei all diesen Funktionen haben wir die Herausforderung, dass unsere Welt sehr komplex ist, insbesondere das innerstädtische Umfeld. Ein*e Fußgänger*in kann beispielsweise beliebig aussehen, etwa einen Hut aufhaben, einen Kinderwagen schieben oder sich komisch bewegen. Diese Komplexität ließ sich mit bisherigen Verfahren nur sehr schwer bewältigen, da man für jede*n unterschiedliche*n Fußgänger*in eine Regel programmieren musste. Mit neuronalen Netzen lässt sich dies jedoch lösen: Man zeigt der Maschine beliebig viele Beispiele und diese lernt dann selbst die Regeln. Das ist ein riesiger Fortschritt und macht es uns möglich, viele Funktionen umzusetzen. KI ist unerlässlich, um die hohe Variabilität von Objekten zu koordinieren und eine hohe Qualität zu gewährleisten.
Am Standort in Berlin entwickeln wir hierfür die Software, die wir unseren Kund*innen verkaufen, die wiederum die Kamera drum herum bauen. Das wird dann künftig VW nutzen und weiterentwickeln.
Wir werden aber KI weiter hier in Berlin entwickeln. Zum einen durch das People Sensing-Team, aber auch mit anderen Themen - losgelöst von Kameras.
Welche anderen Themen planen Sie denn aktuell? Welche Pläne für die Zukunft hat HELLA Aglaia?
Wir arbeiten aktuell an der Entwicklung intelligenter und sicherer Steuerungssysteme für Hoch- und Dualvolt-Batterien, kurz gesagt: an dem spannenden Thema Elektromobilität.
Das People Sensing werden wir außerdem ausbauen und auch noch weitere Märkte für unsere Produktlösungen entdecken. Hier gibt es ganz spannende Beispiele, etwa die Gebäudeautomatisierung oder das Gebäudemanagement, was sich mit einem People Counter auch unterstützend umsetzen lässt. Wenn ich zum Beispiel weiß, wie viele Menschen sich in einem Meetingraum befinden, kann ich etwa die Heizung oder weitere Dinge im Gebäude steuern.
Außerdem haben wir noch das Thema KI. Wir werden sowohl als interner Dienstleister für die HELLA-Gruppe weltweit agieren, aber auch extern an Dritte unsere KI-Lösungen zukünftig vermarkten. Eine typische Anwendung für KI ist die Qualitätsüberwachung und -verbesserung in Produktionen. Hier entwickeln wir anwendungsspezifische Lösungen, um die Kosteneffizienz, Wirtschaftlichkeit und Qualität von Produkten und somit auch des Unternehmens zu erhöhen. Auch in anderen Domänen werden wir tätig, zum Beispiel beim Controlling von Daten mit Hilfe von neuronalen Netzen oder beim Prüfen von rechtlichen Texten. Es gibt vielfältige Anwendungsfälle für Künstliche Intelligenz, die wir mit einem Team bei HELLA Aglaia begleiten werden.
Welche Vorteile hat der Standort Berlin im Bereich Künstliche Intelligenz gegenüber anderen?
Hier gibt es verschiedene Aspekte, zum einen das Thema Recruiting: Wir haben es in Berlin sehr viel einfacher, als an anderen Standorten, im Umfeld KI gute Fachkräfte zu bekommen. Einerseits haben wir viele Unis, von denen die Leute kommen und andererseits ist die Stadt auch attraktiv und spannend für Zugezogene aus dem Ausland. Und drittens haben wir ein großes Start-up-Umfeld hier in Berlin. Gerade im Bereich KI passiert unglaublich viel hier, wodurch wir enorm profitieren.
Wir haben unter anderem vor anderthalb Jahren mit der Drivery auch die erste Tochterfirma der HELLA Aglaia gegründet. Dort haben wir ein Ökosystem rund um Mobilität für Start-ups, aber auch für Mittelständler, Zulieferer, Investoren und Politik geschaffen. An diesem Ort schaffen die Leute auf Augenhöhe gemeinsam Innovationen. Auch hier haben wir von dem Start-up-Umfeld in Berlin profitiert: Ca. 70 Prozent der Start-ups in der Drivery arbeiten an KI-Themen.
Wie prominent das Thema ist, sehen wir u.a. auch daran, dass sich die 12.000 qm große Fläche in der Drivery trotz Corona sehr gut hinsichtlich der Auslastung entwickelt hat.
Gerade in der Krise ist für viele Unternehmen interessant geworden, zu kooperieren, auch aufgrund der Komplexität der Themen. Kooperation müssten in der deutschen Industrie generell noch viel wichtiger werden. Der Austausch und die Bündelung von Kräften findet derzeit noch viel zu wenig statt. Durch Corona hat sich jedoch die Offenheit der Leute diesbezüglich sehr verstärkt.
Wie wird sich KI in Ihren Augen in den nächsten Jahren noch entwickeln? Sind wir schon viel weiter, als gedacht, oder stehen uns noch viele Innovationen bevor?
Es ist tatsächlich bereits sehr viel passiert in den letzten Jahren. Das Thema KI durchdringt Schritt für Schritt fast alle unsere Lebensbereiche. Man darf jedoch den aktuellen Stand der Technologie nicht überbewerten. Wir sind jedoch noch ganz weit weg von einer Ähnlichkeit zur menschlichen Intelligenz. Es gibt sicherlich viele Bereiche, in denen KI bereits gut funktioniert und uns Menschen auch unterstützt bzw. unser Leben bequemer und sicherer machen kann. Jedoch werden wir wahrscheinlich die nächsten Jahrzehnte wahrscheinlich noch daran arbeiten müssen, dass das wirklich so wird, wie man sich eine Künstliche Intelligenz vorstellt. Es gibt immer mehr Themen, die mit KI lösbar werden. Daher hat diese Technologie sehr viel Potential. Dennoch müssen wir das Thema auch mit Verantwortung angehen.
Deutschland muss zudem noch mehr in Forschung und Entwicklung investieren, um auch international weiterhin wettbewerbsfähig zu sein und steuernd mit agieren zu können. Wir sollten noch aktiver an der Gestaltung der Zukunft mitarbeiten, unsere Angst ablegen und die Technologie gewinnbringend nutzen.