Das Mastory-Team © Mastory

22 Mai 2023

Ein Berliner Start-up nutzt KI, um Mathe interessanter zu machen.

Comic-Bücher, Videospiele, Sci-Fi-Shows – und Mathematik: Dass Letzteres zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt, ist für viele nur bei „Nerds“ wie Sheldon Cooper und seinen Freund*innen aus der „Big Bang Theory“ vorstellbar. „Viele Menschen verbinden mit Mathematik die standardisierten, formalen, technischen Aspekte“, räumt Felix Schwarz mit einem Missverständnis auf, „in Wahrheit stehen aber diese Aspekte nur bei der immer wiederholten Anwendung von Mathematik auf (für die Schule!) standardisierte Probleme im Vordergrund. Wer täglich in derselben Stimmlage dasselbe Gedicht vor derselben jugendlichen Hörerschaft aufsagt, darf sich nicht wundern, wenn das Publikum Lyrik irgendwann für langweilig hält“, fügt der studierte Philosoph und Mathematiker hinzu. Wie für die Serienheld*innen ist Mathematik für ihn „das glatte Gegenteil solcher Monotonie“. Es sei eine Spielwiese für die Phantasie und durch ihre Vielseitigkeit in unterschiedlichsten Szenarien anwendbar.

Vollständig immersives Gesamterlebnis

Dieser Vielfalt bedienen sich Schwarz und seine Kolleg*innen Márta J. Vitális sowie Bence Tornai vom Berliner Bildungs-Startup Mastory ganz bewusst: Über eine Handy-App führt es Kinder in eine fiktive Science-Fiction-Welt, in der sie durch Nachdenken, Untersuchen, Messen, Zählen und Erklären – kurz mit Hilfe der Superkraft Mathematik – verschiedene Aufgaben lösen müssen. „Jede mathematische Herausforderung ergibt sich organisch aus dem Zusammenhang der fiktionalen Realität der Geschichte; und je nachdem, wie die Schüler*innen mit dem Produkt interagieren, folgt die Geschichte danach unterschiedlichen Handlungssträngen“, erklärt der CTO & Co-Founder das Prinzip der Plattform, die Storytelling mit Mathematikunterricht verzahnt. Die jeweiligen Episoden müssten „sowohl vom rein mathematisch-didaktischen Standpunkt als auch als bloße Geschichte absolut überzeugen“, betont er. So werde der Charakterentwicklung und -interaktion ein ebenso großer Stellenwert beigemessen, wie der mathematischen Korrektheit und Verständlichkeit der Erklärungen. Ergebnis sei ein „vollständig immersives Gesamterlebnis. So sehr, dass Schüler*innen idealerweise zwischendurch ganz vergessen, dass sie sich ‚nebenbei‘ auch noch mit Mathematik beschäftigen“, hofft Schwarz auf einen Flow-Effekt ähnlich wie bei Spielen und angelehnten Gamification-Anwendungen. Da die App zudem nicht nur als Single Player Game, sondern zusätzlich im Klassen-Modus angeboten wird, können ganze Lerngruppen an komplexen Herausforderungen zusammenarbeiten und so ihre sozialen Kompetenzen fördern. Das und die Stärkung des kritischen Denkens – als Einzelne*r oder im Team – seien weitere erwünschte Nebeneffekte dieses theaterpädagogischen Ansatzes.

Um diese Effekte zu erzielen, setzt das 2020 gegründete Mastory auf eine kontinuierliche Begleitung der Lernenden durch einen Live-Chat mit den Charakteren der Geschichte. Durch die Kommunikation mit dem KI-Chatbot „können die Benutzer*innen situativ erleben, dass sie mit ihren Fragen, Unklarheiten und Unsicherheiten nicht alleine sind und dass das noch lange kein Grund ist, sich dem Fach gegenüber zu verschließen oder die Herausforderung gar nicht erst anzunehmen“, meint der Absolvent der Humboldt-Universität zu Berlin und Universität von Kyoto. „Unsere zentrale Botschaft ist hier ‚du bist nicht allein‘ – angereichert mit ganz konkreten Tipps und Strategien, wie sich selbst das schwierigste Problem so weit herunterbrechen lässt, dass es sich am Schluss durch gemeinsame Anstrengungen lösen lässt.“

Neben der Technologie haben die Schüler*innen auch die Lehrenden an ihrer Seite: Über ein Dashboard können diese die Aktivitäten beobachten und nachverfolgen, Episoden dem eigenen Lehrtempo entsprechend anpassen sowie prüfen, ob die Künstliche Intelligenz den Chat richtig moderiert oder Fragen offen bleiben. Damit Lehrer*innen diese Funktionen richtig nutzen, stellt Mastory intuitive Tutorials und Hilfe-Mechaniken zu Verfügung. „Dementsprechend groß ist auch die Akzeptanz unter Lehrer*innen, die wir bisher erfahren“, freut sich Felix Schwarz, „vor allem in den USA, die im Bereich digitales Lernen nach wie vor deutlich weiter sind, aber auch hierzulande.“

Gefördert von der Bill & Melinda Gates Foundation

Dass die USA im Fokus von Mastory steht, hat neben ihrer EdTech-Vorreiterrolle noch einen anderen Grund: Im August 2021 wurde die von der Freien Universität Berlin ausgegründete Lernplattform als einzige internationale Organisation für die zweite Phase des „Balance the Equation“-Programms der Bill & Melinda Gates Foundation ausgewählt. Ziel des hoch dotierten Förderprogramms ist die Unterstützung von Schüler*innen, vor allem im Kurs Algebra 1 in US-amerikanischen Brennpunktschulen: „Mit Gates' Vision, allen Schüler*innen wirklich gleiche Chancen zu bieten, statt sozioökonomisch verankerte Benachteiligungen einfach zu reproduzieren, konnten wir uns vollständig identifizieren“, erklärt Felix Schwarz die Entscheidung, sich als junges deutsches Startup für den Förderpreis beworben zu haben.

Die Kandidatur fiel für Felix Schwarz und seine Mit-Gründerin Márta J. Vitális in eine schwierige Zwischenzeit: Die beiden kannten sich aus dem Mathematik-Studium und hatten zusammen das Vorgängerprojekt Mathalaxie geschaffen. Dabei handelte es sich um „Projektwochen und Ferienkurse für Grundschulklassen, in denen die Kinder eine imaginäre Weltraumreise planen und am Ende auch durchführen und dafür diverse mathematische Aktivitäten durchlaufen“, beschreibt Schwarz das Projekt, das sogar Eingang in die Lehrer*innenausbildung der Freien Universität Berlin gefunden hat. „Bis Corona kam und wir einige Weichen anders stellen mussten“, ergänzt der Mathematiker. Auf der Suche nach Wegen, das überwiegend analoge Format mit IoT-Technologie und „smartem” Lehrmaterial anzubieten, entwickelten sie nicht nur ein digitales Konzept und sicherten sich ein Berliner Startup-Stipendium der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie eine Förderung vom Europäischen Sozialfonds. Mit dem Marketing- und Finanzexperten Bence Tornai stieß zudem der dritte Co-Gründer zum Team. „Aus einem privat initiierten Hobby-Projekt wurde Schritt für Schritt ein Unternehmen“, meint Schwarz.

Sich für das „Balance the Equation“-Programm der Bill & Melinda Gates Foundation zu bewerben, war ein enormer Meilenstein auf diesem Weg. Da dieses auf eine deutlich ältere Zielgruppe abgestimmt war, beschloss das Kernteam mit Freelancern aus allen Teilen der Welt, „die Mathalaxie digital und für ein jugendliches Publikum neu zu erfinden.“ Mit Erfolg: „Wir fanden uns plötzlich neben zehn anderen, allesamt US-amerikanischen (und deutlich größeren), Namen als Grantees wieder“, erklärt der CTO & Co-Founder. „Seither profitieren wir neben 1,1 Mio. US-Dollar Förderung vom einmaligen Netzwerk der Foundation, die ein kaum zu überschätzender Türöffner bei verschiedensten Akteur*innen inner- und außerhalb der USA ist.“

Die Fördermittel selbst sollen vor allem die hohen Entwicklungskosten abdecken, um demnächst ein Produkt auf den Markt zu bringen, das „neue Maßstäbe für den Mathematikunterricht setzt“. Ob und wie das in der Praxis gelingt, soll eine Pilotstudie mit dem American Institutes for Research (AIR) überprüfen. Aufgrund des Interesses von Lehrenden, Eltern und einzelnen Schüler*innen werde die Plattform zuerst über individuelle Accounts mit einem episodenbasierten Preismodell des Pay-as-you-go zugänglich sein. Einige Monate später soll eine Schul-Flatrate im Abo das Angebot ergänzen.

Lokalisierbarkeit als Erfolgsrezept

Was im ersten Schritt nur in den USA passiert, ist auch in Europa geplant – „sobald unsere Kapazitäten es erlauben.“ Den Bezug zu Berlin, wo das Startup entstanden ist und nach wie vor „sitzt“, möchte Mastory jedenfalls nicht verlieren. Im Gegenteil: „Wir haben von Anfang an auf die Lokalisierbarkeit unserer App geachtet – schon deshalb, weil wir sie zuerst immer mit Partnerschulen in Berlin (auf deutsch) und Debrecen (auf ungarisch) testen“, versichert Schwarz.

Es ist ein erdenklich guter Ausgangspunkt, auf dem sich das drei-köpfige Kernteam aber nicht ausruhen will. Neben dem langfristigen Ziel, „als Standbein für jüngere Kinder auch die Mathalaxie wieder in die Mastory-Plattform zu integrieren“, kann sich Schwarz die Erweiterung des Ansatzes auf andere Unterrichtsfächer vorstellen. „Da ein nicht unerheblicher Teil unserer Business Logic auf der Analyse von Formeln und Graphen basiert, kommen für eine direkte Fortsetzung in erster Linie andere MINT-Fächer wie Physik, Chemie, Biologie oder Informatik in Betracht“, meint der Unternehmer. Und auch auf Sprachen, Geschichte, Sozialwissenschaften oder Ethik lasse sich der Ansatz möglicherweise übertragen. „Zumal wir erwarten, dass beim gegenwärtigen Tempo der KI-Entwicklung auch eine Analyse von Schüler*innen-Aktivitäten in solchen Gebieten in den nächsten drei bis vier Jahren in einer Qualität möglich sein wird, die höchsten didaktisch-professionellen Ansprüchen genügt“, sieht er Potenzial, mit Hilfe der Technologie noch mehr Superkräfte zu aktivieren.