Insbesondere in größeren Städten liegt der Anteil von Kindern, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen, bei 40 Prozent und mehr. Was der Bericht „Bildung in Deutschland 2022“ mit Zahlen belegte, kennen die pädagogischen Fachkräfte in Kindergärten und Schulen nur zu gut aus ihrem Alltag. „Rund die Hälfte aller Kinder in unseren Einrichtungen spricht kein Deutsch als Familiensprache“, bestätigt Theresia Wollnitz, Mitarbeiterin in der Stabsstelle Wissenschaftskooperationen – Internationales bei FRÖBEL, Deutschlands größtem überregionalen freigemeinnützigem Träger von Kinderkrippen, Kindergärten und Horten mit Geschäftsstellen in mehreren Bundesländern Deutschlands. „Unsere Mitarbeitenden stehen somit immer wieder vor der Herausforderung, über kleinere und größere Sprachbarrieren hinweg teilweise sehr komplexe Dinge zu besprechen. Hier geht es beispielsweise um organisatorische Fragestellungen, der Kitaplatzsuche und -vergabe und nicht zuletzt auch immer um eine individuelle Begleitung des Kindes und der Familien.“
Konventionelle Übersetzungs-Apps haben sich in der Praxis für den Einsatz in der Kommunikation mit den Eltern als ungeeignet erwiesen, weil sie Begriffe wie „Eingewöhnung“ nicht in ihrem Repertoire haben. Und Sprachmittler*innen zum Erst- oder Entwicklungsgespräch mit nicht oder wenig Deutsch sprechenden Eltern hinzuzuziehen, ist angesichts der sensiblen Themen für die Familien oft unangenehm. Für Kitaleitung und pädagogische Fachkräfte wiederum bedeutet die Bereitstellung solcher Übersetzenden einen zeitlichen und organisatorischen Aufwand, der im Alltag nicht unbegrenzt geleistet werden kann. Dem FRÖBEL-Anspruch, allen Kindern und Eltern – „unabhängig ob mit oder ohne Migrationsgeschichte und ungeachtet des sozialen Status“ – eine Partizipation im Kindergartenalltag zu ermöglichen, wird diese Situation nicht gerecht.
Theresia Wollnitz © FRÖBEL / Marie Baer
(Sprach)Barrieren sind dazu da, sie abzubauen
„Ein digitales Tool, was jederzeit von unseren pädagogischen Fachkräften genutzt werden kann, pädagogisches Fachvokabular kennt und problemlos übersetzen kann, würde unsere Mitarbeitenden und die Familien oftmals sehr gut unterstützen“, bringt Wollnitz die Idee auf den Punkt.
Zwar beschäftigt sich FRÖBEL seit einiger Zeit bereits mit der Frage, wie digitale Lösungen sowohl den Verwaltungsbetrieb von Kindertageseinrichtungen als auch die pädagogische Praxis bereichern können. Bei technischen Fragen verlässt sich der Verein allerdings gern auf kompetente Kooperationspartner.
„KI soll dem Menschen dienen"
Ein eben solcher war im Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) mit „SpeechTrans4Kita“, wie das Projekt genannt wurde, schnell gefunden: „Als FRÖBEL uns diese Projektidee vorstellte, waren wir sofort begeistert“, erklärt Dr. Stefan Schaffer vom DFKI Berlin, der seit der ersten Projektphase im Frühjahr 2021 involviert ist. „Das Projekt verbindet aktuelle Forschung im Bereich maschineller Übersetzung mit einem sehr konkreten und erwartbar zeitnahen Nutzen für die pädagogische Praxis. KI soll dem Menschen dienen – wenn wir sie nutzen können, um Sprachbarrieren in besonderen Settings abzubauen, wird sie diesem Anspruch gerecht.“
Stefan Schaffer © DFKI
Gemeinsam entwickelten die Partner im Sommer 2020 die Idee, KI gezielt für den pädagogischen Dialog in zwei Sprachen nutzbar zu machen. Eine App soll Gespräche zwischen Kita-Fachkräften und Eltern simultan übersetzen und stetig dazulernen, damit die Qualität der Übersetzungen immer besser wird.
„In einer Umfrage in allen Einrichtungen haben wir für Arabisch den größten Bedarf ermitteln können“, berichtet Wollnitz von den Anfängen. Um das KI-System mit relevanten Ausdrücken, Begriffen und Formulierungen zu füttern, arbeiteten Testpersonen – Eltern, Studierende der FRÖBEL-Akademie und pädagogische Fachkräfte, in Sprachtandems zusammen. „Wir haben uns hier zunächst an Vokabular orientiert, das in Gesprächen zwischen der Einrichtungsleitung, der pädagogischen Fachkraft und den Eltern zu Beginn des Kitastarts geführt werden – den sogenannten Eingewöhnungsgesprächen. Gleichzeitig wählten wir wichtige Begriffe des pädagogischen Geschehens im Kindergarten aus, wie zum Beispiel Sprachlerntagebuch oder Morgenkreis“, beschreibt sie die Herangehensweise. Dabei handelte es sich um Begriffe, die in allen rund 220 FRÖBEL-Einrichtungen verwendet werden und die darüber hinaus etablierte Fachtermini seien.
„Es wurde ein Glossar mit etwa 100 unternehmensspezifischen und pädagogischen Begriffen bei FRÖBEL verwendet“, ergänzt Stefan Schaffer. „Für einige diese Begriffe wurden speziell für das Arabische passende unterschiedliche alternative Formulierungen (Synonyme) erstellt, womit die noch kleine Datenbasis auf immerhin 150 Ausdrücke erweitert wurde.“ Eine größere Datensammlung anzulegen, sei für eine weitere Projektphase geplant.
So funktioniert’s (bisher):
Entstanden ist eine Übersetzungsapp auf Android-Basis, die von Nutzenden über ein gemeinsames Tablet verwendet wird: Dort werden die einzelnen Sätze des Dialogs in nutzerspezifischen „Sprechblasen“ dargestellt. „Mittels automatischer Spracherkennung wird gesprochene Sprache in Text umgewandelt. Der Text wird an das Backend zur Übersetzung geschickt. Es werden Übersetzungen in die Zielsprache sowie entsprechende Rückübersetzungen generiert.“ beschreibt Stefan Schaffer den Prozess. „In einem zusätzlichen Verarbeitungsschritt wird überprüft, ob spezielle Begriffe des Glossars verwendet wurden oder Teile der Äußerungen bereits von der Crowd übersetzt wurden. Ist dies der Fall, werden die entsprechenden Textteile ausgetauscht. Bevor ein Dialogpartner die Übersetzung erhält, werden denjenigen, die die letzte Eingabe gemacht haben, zunächst Rückübersetzungen angezeigt. Die passendste Rückübersetzung kann ausgewählt werden, wodurch dann den Dialogpartnern die Übersetzung im Frontend angezeigt und durch eine Sprachsynthese ausgegeben wird. Sollte eine (Rück-)Übersetzung nicht gut genug sein, kann diese entsprechend markiert werden und wird dann zur Übersetzung an die Crowd geschickt. Dieser Schritt ist asynchron, das heißt, die Antwort kommt in der Regel nicht sofort, sondern zeitverzögert. Die Crowdantwort kommt also dem aktuellen Dialog nicht unmittelbar zugute, sondern kann erst für spätere Nutzungen Effekt zeigen.“ Statt der sprachlichen Eingabe kann die Texteingabe auch über die virtuelle Tastatur des Tablets erfolgen.
Dass die – oft sensiblen – Inhalte des Gesprächs zwischen Kita-Fachkraft und Eltern dabei vertraulich behandelt werden, versteht sich von Seiten der Projektpartner von selbst. Um die personenbezogenen Daten und damit das Interesse der Kinder, Familien und Fachkräfte zu schützen, werden alle sprachverarbeitenden Dienste als angepasste Open-Source-Kompetenten auf DFKI-eigenen Servern betrieben. „Eine Ausnahme stellt die Spracherkennung dar, da für die Testphase noch keine Lizenzen für On-premise Integrationen erworben wurden“, präzisiert Stefan Schaffer, der mit seinem 4-köpfigen Team für die technische Umsetzung verantwortlich ist.
Vielversprechender Praxistest
Im November 2021 wurde die App von neun Teilnehmenden mit pädagogischen Hintergrund auf Herz und Nieren geprüft: „Die Testpersonen waren begeistert von den Chancen und Möglichkeiten, die mit einer intelligenten Übersetzungs-App für den Praxiseinsatz verbunden sind“, freut sich Wollnitz von FRÖBEL. „Insbesondere für den Beziehungsaufbau und die Beziehungsgestaltung mit Familien nicht-deutscher Familiensprache ist das sehr hilfreich.“ Allerdings stellten die Kooperationspartner auch einen „nicht unerheblichen Entwicklungsbedarf, beispielsweise in der Übersetzungsqualität“ fest. Der Gesprächsfluss sowie die Usability sollten praktikabler und verbessert werden. „Die größte Aufgabe allerdings besteht in der breiten Anwendung, das heißt in möglichst vielen Gesprächssituationen muss die jeweilige Sprache „gelernt werden“, um besser und besser zu werden“, meint Wollnitz.
Das Weltgeschehen im Blick: Ukrainisch-Deutsch als nächster Schritt
Von einem Einsatz in der Praxis ist die App demnach noch einige Schritte entfernt. Nachdem 2022 neben Arabisch-Deutsch angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus der Ukraine auch erste Ergebnisse für Ukrainisch-Deutsch erarbeitet wurden, steht in diesem Jahr die Weiterentwicklung des Prototypen im Fokus. „Als nächster Schritt ist ein größeres Förderprojekt geplant, bei dem der bestehende Demonstrator zu einer tragfähigen produktiven Lösung weiterentwickelt und ein Betreiberkonzept ausgearbeitet werden soll“, erklärt Stefan Schaffer. Fördermittel dafür werden aktuell akquiriert, und die Suche gestaltet sich, laut FRÖBEL, „als relativ schwierig“. Dennoch sehen die Kooperationspartner für SpeechTrans4Kita eine strahlende Zukunft voraus. In drei Jahren soll sich das Projekt „am liebsten zu einem praxistauglichen, erprobten und evaluierten Produkt“ gemausert haben, „das zehn weitere Sprachen problemlos übersetzen kann und nicht nur bei FRÖBEL eine breite Anwendung findet“, hat Theresia Wollnitz ein klares Ziel. Am Bedarf in der pädagogischen Praxis wird die Realisierung dieser Vision sicher nicht scheitern.