Mann mit Tablet in der Hand bedient einen Roboterarm im Vordergrund.

24 Juli 2020

Die Hand-Auge-Koordination von Micropsi Industries hilft Robotern, bisher nicht-automatisierbare Produktionsprozesse durchzuführen.

Covid-19 hat die Welt an ihrer Achillesferse getroffen: Das Virus führt nicht nur die menschliche Sterblichkeit vor Augen. Es zeigt die Verletzlichkeit der Wirtschaft, die von internationalen Lieferketten abhängig ist. So brachten Fertigungsstopps in China die Produktion in der heimischen Automobilindustrie zum Stillstand. Um nach der Pandemie resilient zu werden, müssen Unternehmen verstärkt auf lokale Produktion setzen, heißt es. Doch wie kann ein Hochlohnland wie Deutschland mit der billigeren Konkurrenz aus Asien mithalten? Und wie kann Massenproduktion stattfinden, wenn aufgrund von Abstandsregeln nicht mehr so viele Arbeiter*innen wie zuvor in Fabriken tätig sein können? „Jetzt schlägt die Stunde der Roboter“, mit dieser Schlagzeile lieferte kürzlich „Der Tagesspiegel“ eine Antwort auf diese Fragen.

Von Emotion zum Wertschöpfungsbeitrag

„Ja, das sagen jetzt viele“, meint Ronnie Vuine, Mitgründer und CEO des Berliner Start-Ups „Micropsi Industries“ (ausgesprochen: Meikropsi). „Wir sagen das schon länger.“ Schon seit der Studentenzeit an der Humboldt Universität Berlin in den frühen 2000ern  beschäftigt sich eine Gruppe um Vuine mit dem Thema Künstliche Intelligenz, genauer gesagt mit dem „PSI“-Modell des deutschen Psychologen Dietrich Dörner. Dabei ging es um die Programmierung emotionaler Roboter-Persönlichkeiten.

Als die Einführung von Deep Learning die technologischen Möglichkeiten erweiterte, war für das ehemalige Studentenexperiment die Zeit gekommen, erwachsen zu werden: 2014 gründete Vuine mit Dominik Welland, Joscha Bach, Priska Herger und Ulrik Deichsel das Start-Up in Berlin-Neukölln. Der Name der studentischen Arbeitsgruppe – Micropsi (Micro-Psi) – ist über die Jahre erhalten geblieben. Von der Idee emotionaler Roboter hat sich das Team mittlerweile hingegen entfernt. Vielmehr konzentrierte es sich darauf, wo die Technologie wertschöpfend zum Einsatz kommen könnte. Ein Investor brachte sie auf die richtige Fährte: Robotik in der Automatisierung. „Wir Deutschen wissen, wie man Dinge produziert und automatisiert“, beschreibt Vuine ein Erfolgsprinzip der heimischen Wirtschaft, „wir haben darin seit 30 Jahren ein enormes Know-how gesammelt.“

CEO Ronnie Vuine © micropsi Industries GmbH

Deutschland: Land mit der größten Roboterdichte

Tatsächlich gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, die ihre Produktion am stärksten automatisiert haben. Sie wird nur von Singapur sowie Südkorea übertroffen. 338 industrielle Roboter kommen hierzulande auf 10.000 Arbeitskräfte, belegen Zahlen der International Federation of Robotics (IFR). Der weltweite Schnitt liegt bei 99. „Die Automatisierung ist in Deutschland aber nur in der Automobilindustrie wirklich hoch“, gibt Ronnie Vuine zu bedenken. Tatsächlich werden 59 Prozent aller in Deutschland installierten Roboter in dieser Branche eingesetzt. Es folgt die metallverarbeitende Industrie mit 14 Prozent und die Kunststoff- und Chemieindustrie mit acht Prozent. Seit dem Aufkommen des Trends hin zur Robotik in den 1980er Jahren wurden Industrieroboter traditionellerweise für Aufgaben eingesetzt, die besonders viel Kraft oder einen hohen Präzisionsgrad erforderten. Dazu zählen das Bauen von Karosserien, das Lackieren oder Schweißen der Fahrzeuge. „Die Roboter werden programmiert und bekommen dabei Befehle für eine einzige, immer gleiche Bewegung vorgegeben“, erklärt Vuine das Prinzip. Das funktioniert aber nur in den seltenen Fällen, in denen das zu verarbeitende Werkstück immer an exakt derselben Stelle liegt. Verändert sich die Umgebung nur um einen Millimeter, greift die Maschine schnell ins Leere. „Das gilt erst recht dann, wenn ein Werkstück von A nach B bewegt werden muss, aber A oder B nicht bekannt sind“, meint der Geschäftsführer und bringt das Beispiel eines Berliner Betriebs, der Kunststoff-Gehäuse für kleine Computer herstellt. Wenn diese aus einer Spritzgussmaschine aufs Fließband fallen, landen sie nicht immer an derselben Stelle. Bisher war es die Aufgabe eines Arbeiters, das Gehäuse vom Fließband zu nehmen, in ein Nest zu legen und das Logo des Herstellers zu platzieren. Solche Tätigkeiten sind nicht selten: „In erstaunlich vielen Produktionen führen Menschen sehr repetitive Tätigkeiten aus, die Fingerspitzengefühl und Hand-Augen-Koordination verlangen“, erklärt Vuine. Hier sei der Einsatz menschlicher Arbeitskräfte wirtschaftlicher, als eine komplexe Sensor-Auswertungssoftware für einen oftmals hoch spezifischen Prozessschritt entwickeln zu lassen. „Oft wird übersehen, dass nicht immer die technologische Machbarkeit ein Automatisierungshemmnis war, sondern auch die Kosten oder die Kompetenzen bei denen, die die Roboter aufstellen müssen“, fügt der Computer-Wissenschaftler hinzu, „vor allem mittelständische Betriebe können das oft nicht und müssten sich sehr teure Hilfe holen.“

Micropsi Industries hat schon 2014 diese Nische erkannt und eine Lösung entwickelt, die diese vielfältigen Herausforderungen mit einer Klappe schlägt: Das mittlerweile auf 28 Expert*innen angewachsene Team in Berlin-Neukölln entwickelte ein System, das es Robotern ermöglicht, Bewegungen zu erlernen, die nicht bei jeder Wiederholung gleich ablaufen. Die sogenannte „Hand-Augen-Koordination“ unterstützt Maschinen von ABB oder Universal Robots dabei, auch in dynamischen Umgebungen ihre Aufgaben zu erledigen. Das gelingt mit Hilfe von Computer-Vision und Künstlicher Intelligenz. Statt jeden einzelnen Schritt aufwendig und kostspielig programmieren zu müssen, nimmt man dafür den Roboter nur an der Hand. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Die Software „MIRAI“ (japanisches Wort für „die Zukunft“) lernt nämlich, indem der Roboterarm von einem Menschen durch die Aufgabe geleitet wird. Eine Kamera und Sensoren am Arm nehmen die vorgeführte Bewegung auf. In wenigen Stunden lernt die Künstliche Intelligenz von Micropsi Industries, die so gewonnenen Daten zu verstehen. „Es versteht, wie sich Werkstück und die Bewegung zueinander verhalten und versteht dabei das Prinzip der Bewegung selbst“, erklärt Vuine. So lernt der Roboter, die Aufgabe in Echtzeit durchzuführen und kann auch jederzeit auf neue Bewegungsschritte flexibel trainiert werden.

© micropsi industries GmbH

Lieblingskunden Mittelstand

Über vier Jahre investierte Micropsi Industries in die Entwicklung von MIRAI. Was in zwei Unternehmen in Süddeutschland und Osteuropa erprobt wurde, unterstützt heute – ein Jahr nach dem Markt-Launch 2019 – Roboter bei zehn Fertigungsaufgaben, vor allem in der Metall- und Plastikverarbeitung. „Wir mögen Kunden, die nicht ganz groß sind“, beschreibt Ronnie Vuine im Podcast Alles Neu sein „Lieblingsklientel“ aus dem innovativen Mittelstand. In diesem Segment punktet MIRAI vor allem damit, dass „kein riesiges Projekt mit einer Universität oder einem Forschungsinstitut aufgezogen werden muss“, weiß der CEO. „Ein Kunde kauft das Produkt, trainiert eine fertige KI selbst und schon geht das.“ Je nach Komplexität der durchzuführenden Bewegung und Ausmaß der zu behandelnden Varianz benötige MIRAI zwischen 200 und 800 Demonstrationen, die in wenigen Stunden machbar sind. Etwa 30 Prozent aller Aufgaben in der Produktion seien automatisierbar, habe die Erfahrung nach anfänglicher Skepsis bei den Fertigungsleitern gezeigt. „In weiteren 30 Prozent fehlen Features von unserer Seite, die wir nachreichen“, so Vuine, „nur 30 Prozent der Aufgaben müssen weiter von Menschen gemacht werden.“

Venture Capital für Spezialisierung auf neue Branchen

Überzeugt hat Micropsi Industries, die neben dem Berliner Hauptquartier auch seit 2018 mit einem Vertriebsbüro in New York auf dem amerikanischen Markt vertreten sind, auch die Investoren. Fünf VC-Unternehmen – darunter „Project A“, „Coparion“ und Vito Ventures “ aus München sowie Berlin – haben bisher ins Start-Up investiert. Am 18. Juni präsentierten Vuine und sein Team auf Medium zwei neue Geldgeber: Die Investitionen von M Ventures und Amplifier erhöhten das Gesamtkapital, das die Berliner seit 2014 gewinnen konnten, auf 13 Millionen Euro. Finanzmittel, die vor allem in neue Anwendungsfelder gesteckt werden sollen. „In der Laborautomatisierung sollte viel Potenzial für Robotik liegen“, erklärt Ronnie Vuine die strategische Entscheidung, „auch bei der Entwicklung von Impfstoffen könnten unsere Systeme mittelfristig durchaus zum Einsatz kommen.“ Welche Möglichkeiten für die Micropsi-Industries-Technologie in dieser Branche bestehen, damit beschäftigen sich die Berliner Innovatoren nicht erst seitdem die ganze Welt auf ein Mittel gegen Covid-19 wartet.

Gearbeitet wird außerdem an der Verbreiterung der Entwicklung selbst: „Es gibt immer wieder Gründe, die Technologie für bestimmte Anwendungen nicht einzusetzen“, so Vuine, „sie ist zu langsam, der Aufwand zu hoch oder die Branche möchte sich nicht mit technischen Problemen auseinandersetzen.“ Für Micropsi Industries ist all das erst recht ein Ansporn, an weiteren Verbesserungen zu arbeiten. So soll etwa im Forschungsprojekt „Rob-aKademI“ eine Möglichkeit gefunden werden, die Roboterprogrammierung für Montageaufgaben weniger aufwendig zu machen. Dazu wird die Produktionsumgebung digital „geklont“ und – zusammen mit einem speziellen Programmiergerüst – dafür genutzt, dem Roboter in einer Simulationsumgebung Fähigkeiten für das flexible Montieren beizubringen. Das Projekt, an dem das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA sowie die Universität Stuttgart, Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb IFF beteiligt sind, wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

„Perspektivisch gesehen werden Roboter bald auch in der dynamischen Welt außerhalb von Fabriken zum Einsatz kommen“, ist Ronnie Vuine überzeugt. Vor allem Service Robotik sei langfristig ein spannendes Thema, das seiner Ansicht nach bald in Altenheimen oder Krankenhäusern Wirklichkeit werden könnte. „Die Maschinen werden nicht Alte oder Kranke pflegen, sondern eher Geschirr einsammeln“, betont der Gründer, „das steht nie an der gleichen Stelle, sieht immer anders aus, doch die Abläufe sind vorhersehbar. Wir arbeiten nicht an dem Produkt, aber wenn ein Unternehmen ein solches System auf den Markt bringt, ist unsere Hand-Augen-Technologie als Komponente kaufbar. Wir sind bereit!“