Prof. Dr. Sebastian Löwe und Marc Engenhart © dai

10 September 2020

"Die Debatte um die Überflüssigmachung von Gestalter*innen müssen wir unbedingt kritischer führen."

Man könnte meinen, maschinell intelligente Systeme haben bereits alle Bereiche des Lebens durchdrungen und unsere Arbeits- und Lebenswelt richtungsweisend beeinflusst. Und doch gibt es Bereiche, in denen die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Zukunftstechnologien in den Hintergrund gerückt sind oder in akademischen Diskursen nur stiefmütterlich behandelt werden. KI-basiertes, anwendungsorientiertes Design ist eines dieser Felder.

An diesem Punkt setzen Prof. Dr. Sebastian Löwe, Professor für Designmanagement an der Mediadesign Hochschule Berlin, und Marc Engenhart, multi-disziplinärer Designer, Musiker und Künstler aus Stuttgart, mit „Designing with Artificial Intelligence“ an. Die dreitägige, digitale Konferenz vom 17. bis 19. September 2020 soll Fragen und Themen aufgreifen und diskutieren, die sich aus der Gestaltung von, für und mit Machine-Learning-Algorithmen ergeben. #ki_berlin hat mit den beiden Gründern vorab über die Ausrichtung der Veranstaltung, den Status Quo von Design und KI und notwendiger Kooperation zwischen Mensch und Maschine gesprochen.

 

Wie kam die Motivation für das Projekt zustande und was möchten Sie damit bewirken?

Marc Engenhart: Wir haben uns auf der Rise of AI in Berlin, einer KI-Fachkonferenz kennengelernt. Ich hatte dort eine Vorstellung der SU, einer musikalischen KI-Mensch-Maschine-Installation. Ich erinnere mich, dass Sebastian und ich uns während der Konferenz zu einem Gespräch verabredeten und der Schlüssel war wohl, dass wir die einzigen Personen mit Designperspektive in diesem Bereich waren. Da hatten wir uns, denke ich, gefunden.

Prof. Dr. Sebastian Löwe: Stimmt, wir haben uns getroffen und zwei Stunden intensiv geredet. Irgendwann kristallisierte sich heraus, dass wir die Designperspektive im großen Feld des Machine Learning vermissen und es jede Menge verzerrte Vorstellungen von der autonomen Gestaltung gibt. Stichwort: Abschaffung der Gestalter*innen. Wir wollten dem etwas entgegensetzen und haben dann später überlegt, gemeinsam eine Monografie zu schreiben. Marc hatte so etwas schon als grobes Inhaltsverzeichnis in der Schublade. Uns wurde dann aber schnell klar, dass wir noch einige große Lücken in unserem Verständnis hatten, es anderen Designer*innen sicher auch so geht und wir das gern zur Debatte stellen wollten in einem interdisziplinären Format. Damit war die Idee der Konferenz geboren. Uns war auch klar, dass wir eine starke Forscher*innen-Community brauchen, um solche Fragen gemeinsam zu beantworten und die wollten wir damit auch stärken.

Woran liegt es, dass Künstliche Intelligenz und Machine Learning im Design-Bereich vor allem in der akademischen Diskussion noch Neuland ist? Gibt es Barrieren, die es zu beseitigen gilt, oder liegt es am Fehlen einer KI-Design-Community?

Marc: Neuland ist es nicht. In den letzten drei Jahren sind in meiner Erinnerung an den Hochschulen mindestens ein bis zwei Seminare oder Workshops im Semester zu Machine Learning in Fachbereichen wie Kommunikationsdesign, Interaktionsgestaltung oder Produktdesign durchgeführt worden. Auch wir haben auf Basis der dai einen Workshop an Sebastians MD.H durchgeführt. Das Interesse steigt, Wissen und Anwendungsbereiche werden damit aber nur in überschaubaren kleinen Happen vermittelt. Natürlich, und so sehe ich es ja auch, ist die Grundlage die des Entwerfens und der damit verbundenen Designbildung. Ein Verständnis für KI mit ML drängelt aber und will sich entfalten, da wir mit Assistententools ja schon arbeiten. Der Grund für die dai war Sebastians und mein Bedürfnis, eine wissenschaftlich hochwertige Konferenz zu etablieren, die etwas genauer und durchdringender Fragen beantwortet, Diskussionen initiiert, Hands-On-Elemente besitzt und eben für alle Gestalter*innen offen ist. Die akademische Diskussion benötigt einen Ort, ein Format, einen Kulminationspunkt. Das ist die dai. Jetzt sogar digital, mit wirklich vielen “Front-Row-Seats”. International verfügbar. Für die Design Community, für junge Gestalter*innen, wie Profis. Sonst geht alles im Rauschen unter und am Ende ist die Maschine etwas schneller als wir. Die dai lädt ein. Es geht nicht um einen informatischen Fachkongress, sondern um die Verbindung eines Designkongresses mit dem Fokus zu einem Verständnis von ML. Ohne Berührungsängste.

Sebastian: Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung zu diesem Themenfeld gibt es noch viele Leerstellen. Die meisten Beiträge zu UX und Machine Learning kommen aus der Informatik. Nur wenige dezidierte Designtheoretiker*innen publizieren zu dem Thema. In Deutschland gibt es also noch keine wirklich systematische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Gestaltung und KI. Ich denke, das liegt zum einen an der Breite und Komplexität des Themas, das ja einfach sehr technisch ist. Fragt man Gestalter*innen, dann kann es passieren, dass man die Antwort bekommt, GANs seien der Kern von Machine Learning. Das stimmt so nicht. Auch einfache statistische Verfahren werden im Machine Learning angewandt. Es muss auch nicht immer Deep Learning sein, auch wenn dieser Bereich enorme Sprünge gemacht hat. Der zweite Teil der Antwort ist sicher der aktuelle populäre Diskurs zu Machine Learning und Design, der so etwas wie die Abschaffung der Gestalter*in antizipiert. Und ja, gerade hat Salesforce eine vollautomatische, intelligente, personalisierte Gestaltungsmachine mit dem “Einstein Designer” vorgestellt, der wirklich beachtliche Fortschritte zeigt und sicher viel repetitive Gestaltungspraxis obsolet macht. Aber unsere Vorstellung geht vielmehr in Richtung Fusion-Skills und einer Co-Creation von Gestalter*in und Maschine, die neue interessante und spannende Ergebnisse zeitigen kann.

Sie kommen beide aus unterschiedlichen Bereichen – akademische Forschung meets Künstler und Designer. An wen richtet sich die Konferenz speziell und wie ist die Resonanz darauf?

Marc: Wir ergänzen uns wirklich sehr gut. Ich komme klar aus dem Bereich des angewandten Designs, der Praxis, mit Auftragsarbeiten für digitale und reale Unternehmen, lehre nun aber seit einigen Jahren an verschiedenen Hochschulen, die mir die akademische, wissenschaftlich forschende Perspektive zum Angewandten schmackhaft gemacht haben. Dazu bot mir mein Designstudio aber immer die Möglichkeit zu experimentieren, zu spekulieren und das für und in allen Medien. Eine angewandte Forschung.

Sebastian: Ich komme eher aus der Theorierichtung, habe zwar Medienkunst an der Burg Giebichenstein studiert, dann aber promoviert und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Design gearbeitet und bin jetzt an der MD.H Prof für Design Management. Mich hat interessiert, eine Konferenz auszurichten, die die theoretische wie praktische Perspektive auf Gestaltung mit Maschineller Intelligenz zusammenbringt. Marc und ich ergänzen uns da sehr gut und versuchen, diese multiperspektivische Herangehensweise auch in die Konferenz zu bringen. Wir haben Speaker mit künstlerischem und gestalterischem Background, aber auch Menschen, die aus der Industrie, der Informatik und Data Science kommen.

Marc: Die Konferenz bietet allen gestaltenden Interessent*innen einen Blick auf das Thema, einen viel genaueren Blick, wie mit Hilfe von künstlich intelligenten Assistenten Gestaltungsarbeit schon heute erweitert und moduliert wird. Wir haben großartige Sprecher*innen aus wissenschaftlicher Perspektive, genauso wie Leute, die sehr praktisch und spielerisch damit umgehen. Forscher*innen, Künstler*innen, Denker*innen und Designer*innen. Das ist einzigartiger Mix.

Welche Fragen beschäftigen Sie persönlich, wenn es um die Verbindung von Design und maschinell intelligenten Systemen geht? Welche Chancen und Möglichkeiten sehen Sie?

Marc: Für mich war die Maschine schon immer Assistentin in gestalterischen wie künstlerischen Aufgaben. Ich begann vor dem Studium kleine Code-Elemente auf meinem damaligen Commodore C64 zu schreiben und war fasziniert, dass ich meine Texte auf einem Nadelplotter selbst in Kopie ausdrucken konnte. So oft ich wollte. Das war so simpel und so nachhaltig. Damit war die Angst, die Sprache der Computer nicht lernen zu können, früh verschwunden. Heute bietet Machine Learning einfach die großartige Funktion nutzbare präzise Automaten zu entwickeln, die helfen, Kreativität und Intuition des/der Gestalters/in zu schulen. Und sie beginnen nun selbst maschinell intelligent zu werden. Designer*innen werden geschult, Variationen herzustellen, um ein Auge für den geeignetsten, ästhetisch passendsten und funktionalsten Entwurf zu entwickeln. Diese Übung ist ein Entwurfsleben lang durchzuführen. Das könnte man nachhaltig verbessern und vitalisieren. Mich interessiert grundlegend die Frage, wie wir diese intelligenten Systeme entwickeln, wie diese konstruiert sind, was sie bereitstellen, übernehmen und in einen Mensch-Maschine-Workflow integrieren, damit Empathie, Spaß und Designqualität ebenso wie die Verantwortung der Wirkung der entworfenen Systeme und Produkte im Gestalten steigt. Und wie wir das jungen Studierenden übermitteln, die die Gestalter*innen von morgen sind. Mit der Frage zu transformativ kreativer Maschineller Intelligenz gehe ich schon einige Zeit in eher experimentellen Projekten nach, die das auch mit künstlerischen Mitteln beforschen. Die essentiellste Chance ist ganz klar im größeren Spektrum der Schritt zu einer neuen Bildungs- und Wissensgesellschaft.

Sebastian: Die beiden Fragen selbst sind sehr breit gefächert. Mich interessiert genauso wie Marc das Experiment. Momentan unterrichte ich an der MD.H auch Designer*innen im Creative Coding und wir nutzen Machine-Learning-Funktionen der ML5.js-Bibliothek und P5.js. Diese Tools können schon sehr viel. Das Tool auszureizen und zu erproben, welche intelligenten Gestaltungsmaschinen man damit bauen kann, macht wirklich Spaß. Aber ein Tool wie ML5 zeigt auch schnell seine Grenzen, wenn man Funktionen haben möchte, die so nicht vorgesehen sind. Zum anderen interessiert mich als Theoretiker auch die abstrakte Ordnung dessen, was wir als Praktiker*innen tagtäglich ausprobieren, was aber auch große Konzerne entwickeln und Hochschulen erforschen. Ich denke an ein Machine Learning Continuum für Designer*innen, das Orientierung gibt und zur Debatte anregt. Außerdem treibt mich die Frage um, wie viel technologische Expertise man als Theoretiker*in, als Gestalter*in haben muss, um erfolgreich Projekte zu stemmen. Gerade forsche ich praktisch mit der Beraterfirma MHP an einem Human-centered Machine Learning Framework, das es MHP-Mitarbeiter*innen erlaubt, wirklich interdisziplinär an Machine-Learning-Projekten zu arbeiten. Oft gibt es das Verständnis zwischen den Disziplinen nicht so tiefgreifend. Dann weiß der Data Scientist nicht, was die Designerin an User Research gemacht hat und umgekehrt. Gerade bei ML-Anwendungen ist es wichtig, die Nutzerperspektive und die Technikperspektive sinnvoll zu verbinden.

Obsolet zu werden, ist eine weit verbreitete Angst von Arbeitnehmer*innen, wenn sich die Diskussion um Künstliche Intelligenz dreht. Ohne Kooperation von Mensch und intelligenter Maschine wird es zukünftig auch im gestalterischen Bereich nicht funktionieren?

Sebastian: Das denke ich auch. Einfach nur Gestaltung automatisieren, ist sicher auf Dauer etwas langweilig. Viele ML-Experten gehen davon aus, dass erst in der Fusion der Skills von User*in und Maschine wirklich neue, wirklich interessante Ergebnisse herauskommen werden. Diese Debatte um die Überflüssigmachung der Gestalter*innen müssen wir unbedingt kritischer führen und nicht jedem dystopischen Szenario sofort Raum geben. Stattdessen plädiere ich dafür, systematisch danach zu schauen, welche Skills Gestalter*innen im Umgang mit der intelligenten Maschine brauchen und welche Agency, also welche Mitbestimmung, sie wollen. Nicht jede Aufgabe will ich auch weiterhin machen müssen als Gestalter*in. Ich habe diese Fusion-Skills jetzt mal gemeinsam mit Master-Studierenden im Seminar ermittelt und sehr interessante Reaktionen erhalten. Da bekommen Designer*innen einen möglichen Weg aufgezeigt und verstehen, dass es um Zusammenarbeit geht und nicht um Verdrängung.

Marc: Jede revolutionäre Epoche, welche die gesellschaftlichen und ökonomischen Gewohnheiten durch grundlegende Veränderung entwickelt, war doch mit der Angst vor Arbeitslosigkeit, notwendiger Neuorientierung und der Frage nach dem »Wird zukünftig alles so bleiben?« verbunden. Jungen Gestaltern*innen zeige ich gerne eine Fotografie von Robert Brecko Walker. Diese zeigt eine Linotype-Typesetting-Maschine aus dem Jahre von 1959. Sie beschleunigte typografische Satzarbeiten über ein Tastaturinterface für die industrielle Vervielfältigung von Buch, Magazin oder Tageszeitung. Eine einzelne Mitarbeiterin ersetzte eine ganze Stube von handwerklich arbeitenden Schriftsetzer*innen. Die Erscheinung der Maschine konnte durch ihre metallische Form und die zischenden, klappernden Geräusche furchteinflößend sein. Verbunden mit der Angst, obsolet zu werden, war die Maschine bei den bisherigen Arbeitnehmer*innen gefürchtet. Damit stelle ich doch nun die Frage, was ist der Unterschied zu heute? Und wer von uns Gestaltern*innen arbeitet heute noch als Schriftsetzer*in mit Bleibuchstaben?

Kommen wir zum Inhaltlichen: Was erwartet uns auf der dai 2020 und wie sehr haben sich Ihre Pläne und Ihr Fokus durch die globale Covid-19-Pandemie geändert?

Sebastian: Ursprünglich wollten wir uns im Mai an der MD.H treffen. Nicht mehr als 100 Expert*innen zu einem konzentrierten Austausch. Wir mussten das dann absagen und verschieben. Jetzt machen wir es digital, wie so viele, schon allein, weil unsere amerikanischen Speaker wohl nicht nach Europa einreisen können. Aber wir haben uns jede Menge neue Formate überlegt, alles diskursiver gemacht und geschaut, dass auch die zufällige Begegnung und der informelle Austausch erhalten bleiben, die in den Zoom-Konferenzen oft fehlen. Immerhin haben Marc und ich uns ja so kennengelernt.

Marc: Natürlich waren wir wie viele andere Konferenzen kurzfristig gezwungen die physische Präsenz in einen digitalen Ort zu modulieren. Dies hat aber unseren Ehrgeiz geweckt, das Konferenzerlebnis inhaltlich noch besser zu strukturieren, ein paar Überraschungen einzubauen und diskursiver auszugestalten. Dazu kommt, dass das Digitale viel mehr Gästen ermöglicht, teilzunehmen, als das zuvor möglich gewesen wäre. Das sehe ich mittlerweile für die erste Konferenz als großen Vorteil.

An erster Stelle steht die digitale Konferenz, was haben Sie im nächsten Schritt vorgesehen?

Marc: Die Konferenz wird konserviert. Wir überlegen auch, ausgesuchte Materialien in unserem dai digital Hub weiterhin zur Verfügung zu stellen und bieten so einen erweiterten Nutzen für alle Teilnehmer*innen, da auf dieses Hub ja auch bei Bedarf wieder zurückgegriffen werden kann. Dazu ist natürlich eine Fortführung und weitere Internationalisierung der Konferenz notwendig. Nach der diesjährigen Konferenz beginnen wir die Ergebnisse und unsere bisherigen Erkenntnisse in ein nutzbares Medium für Designer*innen und Theoretiker*innen zu übersetzen.

Sebastian: Wir haben einen Verlag und sind mit ihm im Gespräch über eine Einführung in das Thema, das eben die obigen Fragen von ML und Design Continuum, Fusion-Skills und einer praktischen Anwendung im Experiment, aber auch im Team mal systematisch darlegt.

Sie sind beide äußerst gut vernetzt: Wie bewerten Sie das KI-Ökosystem in Berlin allgemein und einmal durch die Design-Brille?

Marc: Wir haben riesiges Potential. Im Moment fallen mir aber nur fünf Freelancer, kleinere Unternehmen und auch ein paar Große im Ökosystem Berlin ein, die aktiv mit dem Thema arbeiten. Zwei neue Studiengänge werden ab WS 2020 in Berlin den Bereich Computational Design bzw. die Hybridausbildung Computer Science und Design abdecken. Das sind klare Anzeichen für einen großen Bedarf.

Sebastian: Vor einiger Zeit gab es in Berlin, vom Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes ausgerichtet, ein Innovation Camp mit dem schönen Namen “Gestaltungsmaschine”, das sich dem Thema Kreativwirtschaft und KI gewidmet hat. Das zeigt mir, dass die Politik das Thema entdeckt hat und darin großes Potenzial sieht. Berlin ist da ein KI-Hotspot, der solche Experimente erlaubt. Für die Gestalter*innen war es interessant, sich mit den KI-Unternehmen in Berlin zu vernetzen und deren Modelle mal für eine Testfahrt zu nutzen und neue unbekannte Anwendungen auszuprobieren. Da haben so etablierte Start-ups wie EyeEm gestaunt, dass man mit ihrer Ästhetik-KI auch einfach eine Bild-Empfehlungsmaschine bauen kann. Das hat mein geschätzter Kollege Jan-Henning Raff ausprobiert, der auch auf der dai digital sprechen wird. Also, ich denke, wir werden noch Spannendes sehen.