Schuld waren die Kaninchen. Lewis Carrolls Alice folgte dem weißen Hasen und entdeckte das Wunderland. Maria stellte die Geschichten ihrer beiden Kaninchen online und entdeckte ihre Liebe zur Technik. Damals war sie zehn Jahre alt. „In der Schule hat man mich dafür ausgelacht“, erzählt die studierte Computerwissenschafterin heute, „für mich aber war das die große Erkenntnis: Ich kann etwas mit der Technologie bauen. Es klingt nach Klischee, aber ich habe mich gefühlt, als hätte ich magische Kräfte.“
Weniger an Zauberei, als vielmehr an harter Arbeit, lag es hingegen, dass Maria Meier Mitte September 2019 mit dem renommierten „She Loves Tech“-Award ausgezeichnet wurde. Schon einen Monat zuvor hatte sich die Wahl-Berlinerin mit ihrem Startup „Phantasma Labs“, das autonomen Fahrzeugen menschliches Benehmen verständlich macht, gegen die heimische Konkurrenz durchgesetzt. Bei der globalen Runde in Peking konnte sich Meier dann gegen 15 Finalistinnen-Teams aus aller Welt – von Israel bis Hong Kong, von Indonesien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, von den USA bis ins Baltikum – durchsetzen. Die Mitbewerberinnen um den größten Tech-Preis der She-Economy, der in diesem Jahr zum fünften Mal stattfand, konnten sich sehen lassen: Dazu zählte etwa das amerikanische Startup „CanAIry“, das mithilfe von Künstlicher Intelligenz Veränderungen von Hustengeräuschen evaluiert und so den Krankheitsverlauf bei chronischen Atembeschwerden überwacht. Das indische Biotech-Unternehmen „CyCa Onco Solutions“ wiederum verabreicht Medikamente direkt in die Krebszelle und macht diese für Patienten dadurch besser verträglich. „Alle Teilnehmerinnen waren sehr beeindruckend“, kam die Entscheidung der Jury, die aus Vertretern von „ADB Ventures“, „SOSV Accelerator VC“, „Dell Technologies“, „Microsoft for Startups“ oder „Intel“ bestand, für die Deutsche durchaus überraschend. „Ich habe mein Bestes gegeben. Vielleicht spielte uns in die Hände, dass selbstfahrende Autos in China ein sehr wichtiges Thema sind“, meint Maria Meier, die als Software-Ingenieurin unter anderem in Silicon Valley tätig war. „Abgesehen davon aber haben wir als Team einfach harte Arbeit geleistet“, betont sie.
Phantasma Labs CTO Maria Meier und CEO Ramakrishna Nanjundaiah © Phantasma Labs
Enterpreneur First: Mitgründer gesucht!
„Phantasma Labs“ ist nämlich keine One-Woman-Show, sondern das Ergebnis einer sich perfekt ergänzenden Zusammenarbeit. Eine, die fast nicht zustande gekommen wäre. Anfang 2018 nahm Maria Meier, die damals in Berlin bei einem Startup arbeitete, an einem Programm von „Entrepreneur First“ teil. Zweimal jährlich wählt der Talent-Investor unter tausenden Bewerbern bis zu 100 besonders vielversprechende aus und unterstützt sie fachlich sowie finanziell dabei, ein Tech-Unternehmen zu gründen. Rund 200 Firmen in London, Paris, Singapur, Hong Kong, Bangalore und Berlin konnten so bereits gestartet werden. Das erste Ziel des Programms: Innerhalb von acht Wochen einen Partner zu finden, um eine Geschäftsidee zu entwickeln und in weiterer Folge ein Unternehmen aufzubauen. „Ein Mitgründer hat mir immer gefehlt“ – brauchte Maria Meier, die unter anderem bei „Oracle“ in den USA gearbeitet hat, doch genau das. „Ich habe lange über eine Gründung nachgedacht, aber meine Freunde wollten nicht mitmachen. Es war für sie nicht die richtige Zeit dafür. Oder vielleicht habe ich einfach nicht die richtigen Freunde dafür gefunden.“ Ähnlich erging es auch Ramakrishna Nanjundaiah. Nach seinem Studium der „Computational Mechanics“ an der TU München entwickelte er fünf Jahre lang hochkomplexe Simulationen, um Probleme von Millionenstädten wie Dubai oder Katar zu lösen. „Ich war Teil eines lukrativen Unternehmens“, blickt er im Nachhinein auf diese Stationen zurück, „aber ich wollte Lösungen entwickeln, die einem noch größeren Markt nutzen.“ Also hat er seinen Job in Stuttgart gekündigt und zog für Enterpreneur First nach Berlin, um „andere Innovatoren zu treffen, deren Fähigkeiten mein Know-how ergänzen.“ Das Risiko machte sich bezahlt – in letzter Minute. „Wir hatten schon fast aufgegeben“, erinnert sich seine jetzige Co-Gründerin, „erst in der letzten Woche haben wir zueinander gefunden. Wir standen unter einem immensen Druck, schnell noch etwas auf die Beine zu stellen. Es funktionierte! Immerhin haben wir uns nicht gegenseitig umgebracht“, ergänzt sie schmunzelnd.
Von Shared Mobility zu selbstfahrenden Fahrzeugen
Etwa 12 Monate später war es dann soweit: Im April 2019 kam mit Phantasma Labs UG das gemeinsame Baby auf die Welt. „Wir wussten, dass wir mit Simulationen große Probleme lösen wollten“, stand dessen Mission laut CEO Ramakrishna Nanjundaiah von Anfang an fest. Diese spiegelt sich auch im Namen des Unternehmens wider, nannte doch bereits der Philosoph Aristoteles ein mentales „Vorstellungsbild“ Phantasma. Heute versteht man darunter generell eine Sinnestäuschung oder ein Trugbild. Mithilfe eines eben solchen wollten die beiden auf virtueller Ebene Anbietern von Shared-Mobility unter die Arme greifen, um deren Angebote zu verbessern. „Als wir die Idee aber einem Automobil-Konzern vorgestellt haben, hat man uns dort auf ein noch größeres Problem aufmerksam gemacht“, erzählt der Computational Mechanic: selbstfahrenden Fahrzeugen den Umgang mit uns Menschen beizubringen.
Sichere „Menschenversteher“
Dass ein solches Training notwendig ist, war spätestens seit März 2018 jedem klar: Damals hatte ein selbstfahrender Volvo XC90 der Uber-Flotte in der US-Stadt Tempe Arizona eine Frau erfasst, die die Fahrbahn außerhalb einer Kreuzung überquerte. Mit Schuld war offenbar die Software des Fahrzeugs, hatte sie doch das auf der Straße angezeigte Hindernis als Fehlalarm eingestuft. „Derzeit werden selbstfahrende Autos nicht in großen Städten eingesetzt, weil sie nicht wissen, wie sie mit Menschen interagieren sollen“, bringt es Ramakrishna Nanjundaiah auf den Punkt, „in Berlin etwa kommen Menschen aus dem Nichts, Autos fahren in die falsche Richtung, sie kommen von allen Seiten. Die Branche muss gewährleisten, dass die Autos all diese Situationen verstehen und richtig darauf reagieren können.“ Hunderte Millionen Kilometer und in einigen Fällen sogar hunderte Milliarden Kilometer müssten dafür Fahrzeuge zurücklegen. Ein so intensiver Test würde mehrere Jahrzehnte dauern. Zu diesem Ergebnis kam 2018 eine Studie der Rand Corporation. Da diese Zeit niemand hat, sollen innovative Testmethoden wie Simulationstechnologien Abhilfe schaffen. „Wichtig ist es, ausreichende Daten von menschlichem Verhalten zu gewinnen“, erklärt der Phantasma-CEO, „dafür erschaffen wir Simulationen von städtischen Räumen.“ Was passiert, wenn ein Radfahrer ein Fahrzeug überholt? Oder eben, wenn ein Fußgänger zehn Meter vom Zebrastreifen entfernt die Straße überquert? Anhand solcher Beispiele werden Verhaltensmodelle generiert und synthetische Datensätze hinzugefügt. „Dann trainieren wir die Fahrzeuge auf diese Situationen“, so Nanjundaiah, „die Maschinen lernen, diese vorherzusagen und auf diese richtig zu reagieren.“ Ohne Menschen in Gefahr zu bringen.
Ausgezeichnete Idee
Die Veranstalter des She Loves Tech-Awards hat die ausgeklügelte Simulationsplattform, die das Phantasma-Duo mit drei weiteren Mitarbeitern entwickelt hat, jedenfalls überzeugt. Als Gewinnerteam erhielt das junge Berliner Unternehmen, das schon zuvor beim heimischen Deep Tech Award zu den Finalisten zählte, 15.000 US-Dollar von „Teja Ventures“. Dies ist der offizielle Venture-Partner von She Loves Tech und Asiens erster Investor mit Frauen im Fokus. Zusätzlich können die Finalisten-Teams auch mit Investitionen anderer Fonds wie ABD Ventures rechnen, sind die Veranstalter überzeugt. Es ist kein leeres Versprechen, konnten die Finalisten-Teams der letzten fünf Jahre doch insgesamt Investitionen von über 100 Millionen USD generieren. Ob Phantasma bereits Ähnliches gelungen ist, dazu wollen sich die beiden Wahl-Berliner nicht äußern: „Das geben wir bekannt, wenn es soweit ist“, hält sich Maria Meier bedeckt. Was sie mit den Geldmitteln tun würde, das ist für die beiden Gründer jedenfalls klar: „In einem Jahr möchten wir mindestens 12 bis 15 neue Kollegen haben, weitere große Automobilkonzerne als Kunden gewinnen und regelmäßige Einnahmen generieren“, bringt ihr Co-Founder die Pläne auf den Punkt.
Berlin: Ökosystem mit Potenzial
Das Potenzial für dieses Wachstum ist in Berlin in jedem Fall vorhanden, sind sich die beiden Phantasma-Gründer über einen weiteren Punkt einig. „Das Ökosystem stimmt“, schwärmt der gebürtige Inder Nanjundaiah, der bereits in München und Stuttgart gelebt hat. „Der Zugang zu Talenten ist hoch. Es ist einfach, Kandidaten für Jobs zu finden.“ Man könne hier jeden treffen und selbst so sein, wie man möchte, bestätigt Maria Meier und spricht von einer „revolutionären Energie.“ Gerade die Startup-Szene der Stadt habe hohes Wachstumspotenzial, ist sie sich sicher. Um das aber vollständig entfalten zu können, stehe noch einiges im Weg. Die deutsche Bürokratie etwa: „Um ein UG zu werden, muss ich hier zum Notar gehen“, bringt sie ein Beispiel aus der Praxis, „in England geht das online in zwei Stunden. Als Startup ist Zeit die wertvollste Ressource, da kann man sich Behördengänge nicht leisten.“
Dringende Investitionen für die Zukunft
Bremsende Regulierungen und Bürokratie in Deutschland sind das eine – vor allem die im weltweiten Vergleich geringe Investitionsbereitschaft in Europa sind für Meier Anlass für Skepsis: „In Asien fließen so viele Investitionen in Technologie-Unternehmen. Daran sollte sich Europa in Beispiel nehmen. Wir müssen in unsere jungen Leute investieren, wenn wir mithalten wollen. Andernfalls werden wir das Rennen verlieren.“ Vor allem ein verstärktes Investment in Deep-Tech-Unternehmen sei notwendig, pflichtet Ramakrishna Nanjundaiah bei. „Vielleicht ist die Technologie heute noch nicht so weit. In zehn bis 20 Jahren aber wird sie groß sein. Wir brauchen finanzielle Unterstützung, damit wir bessere Technologien entwickeln und so größere Probleme lösen können. Investoren sollten mehr Risiken eingehen.“ Frei nach Lewis Caroll: Um zum Wunderland zu kommen, muss man manchmal auch Kaninchen folgen. Phantasma ist jedenfalls bereit dazu.