Auf den ersten Blick könnten die Nachrichten in der „Abendschau” und die Kindersendung „Sandmann” kaum unterschiedlicher sein. Doch hinter den Kulissen haben sie mehr gemeinsam, als manch Zuschauende vielleicht denken: In beiden Programmen sitzt kein menschlicher Cutter stundenlang, um verschiedene Aufnahmen sinnvoll zu einem Video zusammenzuschneiden. Den langwierigen Prozess übernimmt ein KI-basiertes System namens „Auto Cut“. In kürzester Zeit kombiniert es Video- und Textmining mit kompositorischen Kriterien wie Relevanz oder Continuity Editing und erstellt sowohl die Nachrichtenfilme als auch die Sandmann-Folgen. Die Automatisierung erspart nicht nur enorm viel Zeit und liefert mehr Output, sie lässt den Redaktionen gleichzeitig mehr Raum für kreative Prozesse. „Grundsatz ist, stets die Verbesserungsmöglichkeiten von Workflows im rbb durch neue Techniken im Auge zu haben“, erklärt Susanne Büchting, Abteilungsleiterin des Technischen Innovationsmanagements (TIM) des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) und für die Entwicklung sowie Implementierung von Auto Cut verantwortlich. „Eines ist uns im rbb besonders wichtig: KI unterstützt den Menschen und steht nicht in Konkurrenz zu ihm.“ Das gilt auch im Bereich der Artificial Intelligence: „KI dient der Arbeitserleichterung und erzeugt insbesondere einen Mehrwert bei Automatisierung und Verarbeitung von großen Datenmengen“, so Büchting, die bereits seit 18 Jahren beim rbb beschäftigt ist.
Susanne Büchting © RBB
KI: „Im Alltag des rbb-Mitarbeiters längst angekommen“
Seit 2019 steht das Thema KI im Fokus der Landesrundfunkanstalt der Länder Berlin und Brandenburg. Nicht nur auf der theoretischen Ebene, wie Büchting betont. Vielmehr entwickelt das 15-köpfige TIM-Team konkrete Projektideen mit den Redaktionen und prüft deren Sinn und Umsetzbarkeit. Neben Auto Cut wird beim rbb an sechs weiteren zukunftsweisenden Projekten gearbeitet. „Als sicht- und hörbares Beispiel stehen aktuell unsere Wetter- und Verkehrsnachrichten in der rbb-Inforadio-App als Audio zur Verfügung – automatisiert von angeliefertem Text in Sprache umgewandelt (Text-to-Speech) und vorgelesen von einer synthetischen Stimme, die wir eigens dafür haben produzieren lassen“, nennt sie eines davon, das bereits seit zwei Jahren zum Einsatz kommt. Das Meiste aber passiere wie Auto Cut hinter der Bühne: „KI ist im Alltag des rbb-Mitarbeiters längt angekommen. Unter anderem auch im Produktionsbetrieb vom rbb, z. B. bei der Erstellung von Bild- und Videomaterial“, meint die TIM-Leiterin. So werden etwa Infografiken automatisiert generiert, um etwa Corona-Fallentwicklungen, Arbeitslosenstatistiken oder Sporttabellen schnell für vielfältige Plattformen zu produzieren. Via Auto-Reframing werden wiederum Videoclips automatisiert an erforderliche Bildseitenverhältnisse – egal, ob für Facebook, Instagram oder Website – angepasst. Ein KI-basiertes Analyseverfahren übernimmt dabei das automatische Zentrieren von Objekten. Zudem arbeitet der rbb am Aufbau einer Materialdatenbank regionaler Personen und Landmarken: Mit Hilfe einer automatisierten Bewegtbildanalyse und bestimmter Metadaten erkennt die KI Personen, Objekte, geografische und demographische Parameter. Das soll dabei helfen, künftig schnell und effizient Videomaterial aufzufinden. „Wir von TIM sind natürlich auch im Austausch mit Firmen und prüfen deren KI-Dienste, um diese bestenfalls bei uns in der Produktion einzuführen, damit Arbeitsabläufe und Ergebnisse optimiert werden können“, fügt Büchting hinzu.
Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Mit dem Interesse an KI ist der rbb nicht allein: Chatbots, Suchmaschinenoptimierung, automatisierte Wetter-, Börsen- und Verkehrsberichte oder die anschauliche Auswertung von Spielverläufen bei Sport-Events sowie Live-Übertragungen – Künstliche Intelligenz hat längst den Weg in die Medienbranche gefunden, wie etwa der KI-Report von XPLR: MEDIA in Bavaria unter Beweis stellt. „Die Themengebiete, die wir bearbeiten, ähneln denen, die andere Medienunternehmen beschäftigen“, erklärt Susanne Büchting. Differenzieren möchte sie sich aber dennoch: „Bisher wird KI bei privaten Sendern eingesetzt, um Werbung interessengenau zu platzieren“, meint sie, „das ist nicht unser Anliegen!“ Vielmehr nähere sich der rbb dem Thema KI frei von politischen und kommerziellen Interessen. „Wir setzen KI ein, um unserem Auftrag gerecht zu werden, also im weitesten Sinne zum Nutzen der Allgemeinheit“, sieht sie darin die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. „Das bedeutet zwangsläufig auch große Transparenz und hohe Standards beim Datenschutz etc.“ Die besondere Aufgabe wird darüber hinaus im europäischen Forschungsprojekt ResKriVer deutlich, das 2021 gestartet ist und bis Mai 2024 läuft: Gemeinsam mit Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft soll der rbb eine Kommunikations- und Informationsplattform für resiliente krisenrelevante Versorgungsnetze entwickeln. „Künstliche Intelligenz und Datentechnologien sollen dabei unterstützen, den besonderen Anforderungen an die Kommunikation in Krisen und bei Katastrophen Rechnung zu tragen“, beschreibt Büchting das Projekt. Die Systeme sollen eine schnelle Verfügbarkeit von verifizierten Daten zu Krisen- und Katastrophenereignissen ermöglichen und die krisenrelevante Informationsaufbereitung unterstützen. Dadurch soll ein interaktives, personalisiertes und passgenaues Informationsangebot entwickelt werden, das auf den umfassenden Daten der Plattform basiert und mit den relevanten Akteuren intelligent vernetzt ist. „Aktueller denn je zeigen Krisen eindringlich, wie wichtig es ist, die Bevölkerung umfassend und objektiv über die besondere Situation zu informieren, die Geschehnisse einzuordnen und zu bewerten und damit der Bevölkerung eine verlässliche Hilfestellung zu bieten“, meint die Expertin. „Wir hoffen, durch den Einsatz von KI von einem optimierten Social Media Listening im Bereich der Krisenkommunikation zu profitieren.“
Vorreiterprojekt ReTV
ResKriVer ist nicht das erste internationale Forschungsprojekt zum Thema AI, bei dem der rbb mitmischt. „KI-Komponenten sind in fast allen Projekten enthalten – und das schon seit einigen Jahren“, bestätigt Susanne Büchting, die das TIM seit sieben Jahren leitet. Bereits 2018 beteiligte sich der rbb gemeinsam mit fünf Partnern – Unternehmen, Institute und ein Archiv – aus fünf Ländern im Rahmen des EU-Programms „Horizont 2020“ am Projekt ReTV. Das Ziel bestand darin, Nutzenden maßgeschneiderte Videoinhalte zu liefern. „Daher widmeten wir uns intensiv der Ermittlung von Nutzer:inneninteressen und Verhaltensmustern“, so die TIM-Leiterin. „Unter Einsatz von Maschinellem Lernen und KI wurde im Rahmen des Projekts unter anderem ein prototypisches System zur automatischen Erkennung von Videoinhalten und zur Erstellung von Videozusammenfassungen oder neuen Videos entwickelt. Diese Erfahrung war unglaublich wertvoll für die nachfolgenden Projekte, wie z. B. unser internes Projekt Auto Cut, welches sich aktuell mit dem automatisierten Videoschnitt befasst.“ Die Erfahrungen und Kompetenzen aus dem Projekt kommen heute bei ResKriVer wie gerufen. „Außerdem bewerben wir uns derzeit um neue Projekte, in denen KI weiterhin eine zentrale Rolle spielen soll“, ergänzt Büchting.
Langeweile kommt beim TIM sicher nicht auf, werden die bestehenden Projekte doch ständig weiterentwickelt und ergänzt. So soll etwa eine KI-gestützte Auswertung zusätzlicher Programm- und Nutzer:innendaten dabei helfen, neue Erkenntnisse über Zielgruppen und Zuschauer:inneninteressen zu gewinnen und so die TV-Programmplanung optimieren. „Dabei haben wir gemerkt, dass wir eine eigene KI erst einmal entwickeln müssen“, meint Susanne Büchting. „Dazu gibt es zahlreiche Einflussfaktoren, die wir erst einmal in Beziehung zueinander setzen müssen – wir haben mehr als zwanzig Datenquellen ermittelt, die bei einer Planung wichtig sind. Das Projekt wird uns noch einige Monate beschäftigen.“ Außerdem sollen Algorithmen künftig die journalistische Arbeit noch besser unterstützen: Themen aufspüren, bei Recherchen helfen und Inhalte nach bestimmen Vorgaben zusammenführen. Klarstellen möchte sie bei all der Digitalisierung jedoch eines: „Wir setzen aber KI nicht in erster Linie aus Rationalisierungsgründen ein, sondern um unseren Auftrag besser und zeitgemäßer zu erfüllen. Wir können mit Hilfe von KI im Zweifelsfall mehr, schneller oder genauer arbeiten und so unseren Beitrag zur Meinungsbildung und zum gesellschaftlichen Miteinander verbessern.