Olga Heuser, DialogShift © DialogShift

18 Mai 2020

„Durch den Einsatz von KI-basierter Sprachtechnologie können Teams entlastet und eine ständige Erreichbarkeit gewährleistet werden.“

Das Berliner Unternehmen DialogShift hat in der aktuellen Corona-Lage schnell reagiert und einen Chatbot für die Covid-19-Krisenkommunikation entwickelt. Wo die Chatbots zum Einsatz kommen, wie sie angenommen werden und wann wir mit dem Einsatz von Service-Robotern rechnen können, hat CEO Olga Heuser #ki_berlin im Interview berichtet.

 

Liebe Frau Heuser, vielen Dank für das Interview. Mit Ihrem Unternehmen DialogShift haben Sie kürzlich eine Chatbot-Lösung für die Corona-Krisenkommunikation der Vivantes Klinika entwickelt. Wie ist die Zusammenarbeit entstanden und welchen Anklang findet sie bisher?

Die Coronavirus-Pandemie hat Europa mit einer unglaublichen Wucht überrollt. Anfang März hat sich eine große Verunsicherung in der Bevölkerung breit gemacht und die Hotlines der Gesundheitsämter, Arztpraxen und Kliniken waren heillos überlastet. Hier haben virtuelle Helfer wie Chatbots oder Sprachassistenten großes Potenzial, denn sie können wiederkehrende Fragen automatisch beantworten und schnell weiterhelfen.

Zusammen mit dem Münchner Unternehmen PRIMO MEDICO haben wir einen Chatbot für die Covid-19-Krisenkommunikation entwickelt und dem kommunalen Berliner Klinikkonzern Vivantes kostenfrei zur Verfügung gestellt (#gemeinsamgegencorona). Vivantes hatte gerade drei Teststellen in Berlin eingerichtet und einen großen Bedarf, die eigenen Service Hotlines zu entlasten und den Patient*innen und Bürger*innen lange Wartezeiten zu ersparen (bzw. zu verhindern, dass diese mit Symptomen in die Kliniken kommen, weil sie über die Hotline niemanden erreicht haben).

Mitte März wurde der Chatbot auf den Webseiten der Vivantes Klinika ausgerollt. In den ersten Wochen hat er rund 1000 Fragen am Tag beantwortet – und das mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Türkisch, Russisch und Arabisch) und rund um die Uhr. Künstliche Intelligenz, in Kombination mit der Möglichkeit, über einen Chat Fragen zu stellen, beantwortet die relevantesten Fragen rund um das Virus, hilft Patien*innen die eigenen Symptome richtig einzuschätzen und gibt gezielte Handlungsempfehlungen. Ziel war es nicht, einen Covid-19-Chatbot zu entwickeln, der alle Fragen rund um das Virus beantworten kann, sondern gezielt solche Fragen zu automatisieren, die bei den Hotlines auflaufen.

Das Ergebnis nach den ersten Wochen im Einsatz: Viele Menschen brauchen Unterstützung bei der Einschätzung von Symptomen und fragen, ob und wo sie sich testen lassen können. Viele fragen aber auch nach den Einschränkungen, beispielsweise bei den Geburtskliniken, oder nach den aktuellen Besuchsregelungen.

Die Anwendung musste entsprechend der aktuellen Lage sicherlich recht zügig entwickelt werden. Wie aufwendig war die Entwicklung der Technologie und wie sind Sie vorgegangen?

Wir betreiben eine Conversational-AI-Plattform, die wie ein Legobaukasten funktioniert und im Grunde branchenagnostisch ist. Denn es geht um Kommunikation und da ist es egal, ob es ein Hotelgast ist, oder eine Patientin, oder jemand, der sich für ein Produkt auf der Webseite interessiert. Die Anwendung bei Vivantes haben wir innerhalb kurzer Zeit aufgesetzt und implementiert. Die Herausforderung lag darin, den virtuellen Assistenten mit den richtigen Inhalten auszustatten und mit Trainingsdaten zu “füttern”. Nach Go-Live haben wir ihn stetig angepasst und ihn um neue Fragen erweitert – je nach Aktualisierungen des Robert-Koch-Instituts und der Vivantes Klinika.

Wir haben beispielsweise innerhalb der ersten Tage gemerkt, dass ausgesprochen viele Fragen zu Einschränkungen in den Geburtskliniken gestellt wurden. Denn werdende Eltern haben diese Informationen auf der Webseite nicht direkt gefunden. Diesen Themenbereich haben wir entsprechend ergänzt und nachtrainiert. 

Inwiefern können Künstliche Intelligenz und Technologie in Krisenzeiten entlasten und unterstützen? Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie für die Zukunft?

In Krisenzeiten, in denen die Verunsicherung groß ist und Serviceteams in Unternehmen, Organisationen oder Krisenstäben überlastet sind, weil sie zahlreiche Anfragen per E-Mail oder Telefon bearbeiten müssen, haben virtuelle Helfer wie Chatbots oder Sprachassistenten großes Potenzial. Etwa 60-80 Prozent dieser Anfragen sind gleich. Durch den Einsatz von KI-basierter Sprachtechnologie können solche Teams entlastet werden und gleichzeitig kann eine ständige Erreichbarkeit gewährleistet werden. Die intelligen­ten Dialogsysteme beantworten Fragen sofort und ermögli­chen so einen Service, wie z. B. die Einschätzung von Symptomen oder Terminvereinbarungen, rund um die Uhr und in mehreren Sprachen. Die Menschen kommen schneller an Informationen oder Services und müssen nicht in Warteschleifen hängen oder tagelang auf E-Mails warten.

Sehr gut funktionieren sogenannte hybride Systeme, bei denen der Erstkontakt über einen virtuellen Assistenten erfolgt und der an eine*n Mitarbeiter*in übergibt, wenn er nicht weiterhelfen kann.

Virtuelle Assistenten werden in den nächsten Jahren nicht nur in Service-Teams zum Einsatz kommen (auch zur organisationsinternen Kommunikation wie in Bereichen HR oder IT Helpdesk), sondern auch im Bereich Telemedizin, wo den Erstkontakt bspw. ein Chatbot übernimmt, die wichtigsten Fragen beantwortet, Patient*innen qualifiziert und an den/die entsprechende/n Arzt/Ärztin weiterleitet.

Weiteres Zukunftspotenzial sehe ich im Bereich Robotics. Sprechende Roboter, die in Kliniken Patient*innen oder Ärzt*innen oder Reisenden am Flughafen oder im Hotel zur Verfügung stehen. Das wird sicherlich noch etwas dauern, aber in fünf bis zehn Jahren werden wir zunehmend Service-Roboter antreffen.

Ihre Chatbot-Lösung findet neben dem Gesundheitsbereich in weiteren, vielfältigen Bereichen Anwendung. In welchen Branchen ist die Integration von Chatbots Ihrer Erfahrung nach von besonderem Vorteil?

Wir haben unter anderem eine branchenspezifische Lösung für die Hotel- und Tourismusbranche entwickelt. Gäste erwarten heutzutage beim Reisen digitalen Self-Service, schnelle Antworten und einen einfachen Zugang zu Informationen und Dienstleistungen. Sie wollen nicht suchen, sie wollen nicht warten und manchmal wollen sie nicht telefonieren oder persönlich mit einem/r Mitarbeiter*in sprechen. Die Anwendung in der Hotellerie ist doppelt interessant, weil diese Technologie zum einen hilft, den Gästeservice zu verbessern und durch Automatisierung von Kommunikation und Reservierungsprozessen die Rezeption zu entlasten. Zum anderen hilft sie Hotels, die Konversion der eigenen Webseite zu verbessern und damit mehr Direktbuchungen über das eigene Reservierungssystem zu generieren. So müssen sie keine Kommission an die Buchungsportale zahlen und haben den Gast in direktem Kontakt mit ihrem Hotel.

Auch in der Hotel- und Tourismusbranche hilft die Conversational-AI-Technologie im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. Derzeit und in den kommenden Monaten sind Gäste/Reisende verunsichert und haben viele Fragen. Für Hotels und Reiseunternehmen sind gute Kommunikation und kontaktloser Service jetzt wichtiger denn je. Die Technologie hilft Hotels und Destinationen, die Gästekommunikation und den Gästeservice effizienter und kontaktlos zu gestalten.

Des Weiteren kommen virtuelle Assistenten in den Bereichen Marketing, e-Commerce, Kundenbetreuung und Personalrecruiting verstärkt zum Einsatz: Sie bieten an unterschiedlichen Touchpoints (Webseite, Apps, Weboberflächen, Messaging-Plattformen oder über QR Codes in Gebäuden) einen schnellen Zugang zu Informationen und Dienstleistungen. Da wir im täglichen Leben an die Kommunikation im Chat gewöhnt sind – je jünger die Zielgruppe, desto relevanter ist dieser Kommunikationskanal, wird diese Kommunikationsform von den Kunden sehr gut angenommen. Will das Unternehmen Mitarbeiter*innen gewinnen, Dienstleistungen oder Zusatzleistungen verkaufen, hilft beispielsweise ein Chatbot auf der Webseite, Fragen zu beantworten, Reservierungen zu tätigen oder Termine zu vereinbaren.

Wie wird Ihre Technologie im Allgemeinen angenommen? Können Sie eine Entwicklung im Umgang und in der Anwendung von Chatbots beobachten?

Von den Nutzer*innen wird die Technologie sehr gut angenommen. Das liegt daran, dass wir uns inzwischen an die Kommunikation im Chat gewöhnt haben. Wir benutzen WhatsApp zur privaten Kommunikation, Slack oder Teams auf der Arbeit, usw. Das “Conversational Interface” ist auch sehr intuitiv zu bedienen, denn man kann einfach die eigene Sprache benutzen, wenn man etwas sucht oder ein Anliegen hat. Auch die Kommunikation mit Chatbots ist für Nutzer*innen kein Problem. Wenn sie wissen, dass sie mit einem Chatbot sprechen, formulieren sie i.d.R. ihr Anliegen in einfachen Worten und sind verzeihend, wenn der Chatbot keine Antwort hat und vorschlägt, die Frage an einen Menschen weiterzuleiten. Einen Aspekt im Umgang mit Chatbots finde ich persönlich sehr interessant: Nutzer*innen lieben es, wenn Chatbots auf Smalltalk antworten, z. B. auf “Danke” – “Wer bist du?” und sie schätzen bei ihnen menschliche Eigenschaften wie Humor.

Unsere Erfahrung mit Kunden im B2B-Bereich ist: Selbst, wenn sie am Anfang zweifeln, ob eine Chatbot-Lösung von den Nutzer*innen angenommen wird; sobald das System live ist, sind sie überwältigt von den vielen Anfragen, die darüber laufen. Spannend sind Sprachassistenten und damit auch Anwendungen in den Bereichen Robotics und IoT. Auch wir haben ein Roboter-Projekt mit einem Schweizer Hotel in Planung.

Wie empfinden Sie die Lage bezüglich der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz in Berlin? Ist genug Raum für Innovationen?

Berlin ist eine fantastische Stadt, um ein Technologie-Unternehmen zu gründen. Das liegt an den guten Fördermöglichkeiten, von denen wir auch Gebrauch gemacht haben. Aber auch an dem internationalen Umfeld und innovativen Vibe in der Stadt. Die vielen MeetUps, Communities, Netzwerke und der kreative Geist der Stadt bieten einen idealen Nährboden für ein innovatives Vorhaben. In Deutschland wurde in den vergangenen Jahren die KI-Förderung stetig ausgebaut. Das ist gut und auch wichtig, damit wir nicht den Anschluss verlieren. Für Startups wünsche ich mir weniger Bürokratie und einen besseren Zugang zu Risikokapital.

Vielen Dank für das Interview, Frau Heuser!