Lin Berghäuser (links) und Kira Trettin (rechts), Lokalvorständinnen Berlin Starcode e.V. © Privat

05 September 2024

“Wir wollen die Vorbilder sein, die wir gebraucht hätten als junge Erwachsene.”

Obwohl die IT-Branche enorme Wachstumschancen bietet und der Ruf nach mehr Diversität immer lauter wird, sind Frauen und Mädchen in der Branche nach wie vor stark unterrepräsentiert. An diesem Problem setzt Starcode e.V. an und hat das große Ziel grundlegende Veränderungen zu bewirken - in dem er MINT-Fächer für Schülerinnen frühzeitig zugänglich macht. Im Interview sprechen Kira Trettin, Lokalvorständin Berlin, und Lin Berghäuser, zweite Lokalvorständin Berlin, von Starcode e.V., über ihre persönlichen Erfahrungen und die Herausforderungen, denen sich Mädchen in MINT-Fächern stellen müssen. In unserem Gespräch erklären die Studentinnen, wie Starcode entstanden ist, wie der Verein mit gezielten Programmen die Gender-Imbalance in der IT bekämpft und mit welchen Outreach-Strategien Starcode in Berlin möglichst viele Frauen und Mädchen erreichen will.

Liebe Kira, liebe Lin, Frauen machen in Deutschland nur 22% der Informatikstudierenden aus. Was sind eurer Meinung nach die größten Hürden, die Mädchen davon abhalten, sich für MINT-Fächer zu begeistern, und wie kann man diese überwinden? Was braucht es von gesellschaftlicher und auch staatlicher Seite, um hier das Ruder umreißen zu können?

Kira: Ein zentrales Problem ist sicherlich, dass Stereotype und Rollenbilder noch immer tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Schon in jungen Jahren wird Mädchen* oft suggeriert, dass MINT-Fächer eher etwas für Jungen sind. Das beginnt oft schon in frühen Kindheitsjahren, wenn Jungs öfter zum Tüfteln ermutigt werden und Mädchen weniger häufig zum Experimentieren angeregt werden. Studien belegen, dass Jungen viel wahrscheinlicher einen Chemiebaukasten geschenkt bekommen würden als Mädchen (Studie).  Ein weiterer Punkt ist das fehlende Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Viele Mädchen haben das Gefühl, dass sie nicht gut genug für MINT-Fächer sind, weil sie oft weniger ermutigt werden als ihre männlichen Mitschüler. Diese Selbstzweifel werden durch fehlende Vorbilder verstärkt – es gibt zu wenige Frauen in der IT, die als Inspiration dienen könnten.

Um diese Hürden zu überwinden, brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel, der bei der Bildungspolitik beginnt. Schulen sollten stärker darauf achten, Mädchen gezielt zu fördern und ihnen Zugang zu MINT-Fächern zu ermöglichen. Initiativen wie unser Verein, die Mädchen die Möglichkeit geben, in einem geschützten Rahmen erste Erfahrungen zu sammeln, sind dabei ein wichtiger Baustein.

Von staatlicher Seite braucht es mehr Unterstützung für Programme, die Mädchen und junge Frauen* in diesen Bereichen fördern. Auch eine bessere Darstellung von Frauen in MINT-Berufen, in den Medien und in der Werbung könnte dazu beitragen, das Interesse zu wecken. Es ist wichtig, dass Mädchen sehen, dass MINT nicht nur etwas für Jungs ist, sondern dass sie genauso erfolgreich in diesen Bereichen sein können.

Wie ist die Idee für Starcode entstanden und welche spezifischen Programme oder Initiativen wurden entwickelt, um der Gender-Imbalance im IT-Bereich zu begegnen?

Lin: Die Idee für Startcode entstand, als die damaligen Gründungsmitglieder von Starcode realisierten, wie sehr Mädchen und Frauen in der IT unterrepräsentiert sind und dass dies oft auf frühkindliche Erfahrungen und gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen ist.Viele Mädchen haben in ihrer Schulzeit wenig Berührungspunkte mit Informatik oder Technik, und wenn sie diese Fächer erleben, geschieht dies oft in einem Umfeld, das eher auf Jungs zugeschnitten ist. Wir wollten das ändern und einen Raum schaffen, in dem Mädchen von Anfang an die Möglichkeit haben, sich in der IT auszuprobieren und ihre Interessen zu entdecken.

Um dieser Gender-Imbalance entgegenzuwirken,wurde Starcode gegründet. Unser Programm besteht aus kostenlosen Programmierkursen für Mädchen ab der fünften Klasse. Diese Kurse sind speziell darauf ausgerichtet, Mädchen spielerisch an die Grundlagen der Programmierung und Technik heranzuführen, ohne dass sie sich in einem stark männlich dominierten Umfeld unwohl fühlen müssen.

Durch unsere Kurse wollen wir Mädchen nicht nur Wissen über Informatik vermitteln, sondern auch ihr Selbstbewusstsein stärken, damit sie sich trauen, ihren Weg in die IT zu gehen. Unser Ziel ist es, langfristig eine Generation von jungen Frauen zu fördern, die die IT-Landschaft mitgestalten und die Vielfalt in der Branche erhöhen.

Was ist eure persönliche Motivation, euch für die nächste Generation von IT-Expert*innen zu engagieren?

Lin: Als Studentinnen in den Bereichen Maschinenbau und Physikalische Ingenieurwissenschaften wissen wir aus erster Hand, wie herausfordernd es sein kann, sich in einem Umfeld zu bewegen, das immer noch stark von Männern dominiert wird.

Kira: Ich, Kira, studiere Maschinenbau und kenne daher ein männerdominiertes Umfeld sehr gut. Ich erinnere mich noch gut daran, als damals in meinem ersten Semester Informatik auf dem Stundenplan stand und ich erstmal schlucken musste. Hatte ich das Zeug dazu? Heute bin ich sehr froh, dass ich es durchgezogen habe, damals war es für mich fast ein Grund, das Studium abzubrechen, obwohl ich es noch nicht mal versucht hatte. Ich habe selbst erlebt, wie wichtig es ist, Unterstützung und Vorbilder zu haben, die einem zeigen, dass man seinen Platz in solchen Bereichen einnehmen kann. Das hat in mir den Wunsch geweckt, anderen Mädchen und jungen Frauen genau diese Unterstützung zu bieten, die sie brauchen, um ihren Weg in der IT oder einem anderen technischen Bereich selbstbewusst zu gehen. Die Informatik ist mittlerweile aus keinem MINT-Fach mehr wegzudenken und deshalb empfinde ich es als so wichtig, hier die Kontaktangst zu lindern.

Lin, die sich für Physikalische Ingenieurwissenschaft entschieden hat, kann das nur bestätigen: Auch ich habe erlebt, wie wenig Frauen in diesen Bereichen vertreten sind. Dass ich Physikalische Ingenieurwissenschaften studiere, kam erst nach einem Studiengangwechsel. Als ich angefangen habe zu studieren, kam so ein technischer Studiengang nicht wirklich in Frage. Einfach, weil ich es mir nicht zugetraut habe. Ich denke, das kam nicht aus einem etwaigen fehlenden Selbstvertrauen in mich selbst, sondern einfach weil der Inhalt der Ingenieurwissenschaften für mich erst einmal auch sehr unbekannt war. 

Lin: Damals war mir das gar nicht richtig bewusst, Kira hat das ähnlich beschrieben mit ihrem Respekt vor den Informatik Fächern in den ersten Semestern. Ich denke, Mädchen und junge Frauen neigen häufig dazu, sich Unbekanntes weniger zuzutrauen. Vergleicht man das mit Jungs, wird klar, für sie ist es viel einfacher, auch durch die gesellschaftliche Prägung, sich das dann doch zuzutrauen.

Wenn ich mir unter einem Thema gar nichts oder wenig vorstellen kann, woher soll ich dann wissen, ob  ich es kann oder ob es mir gefällt. Ich denke, Mädchen neigen schneller dazu, es gar nicht erst zu probieren. Für mich war nach ein paar Semestern Reflektion und auch der Realisierung, dass ich meine Module genauso erfolgreich abschließe wie alle anderen klar, ich will mich engagieren, um das Selbstbewusstsein von jungen Frauen zu stärken. Und als ich dann auf Starcode aufmerksam wurde, war klar, das ist genau das, wo ich mich einbringen möchte. 

Dafür ist Starcode schließlich auch da – diese Unbekannte für Mädchen ein bisschen weniger unbekannt zu machen und so ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Das Ziel unserer Kurse ist gar nicht, dass alle nach Hause gehen und sagen, wenn ich groß bin, studiere ich Informatik. Es geht eben auch darum zu zeigen, dass es sich lohnt, sich neue Sachen zu trauen, die man noch nicht kennt oder unter denen man sich nicht so viel vorstellen kann. Die Entscheidung sollte darauf basieren, ob man Spaß an der Thematik hat oder nicht und nicht davon geprägt sein, dass man es gar nicht erst ausprobiert hat oder die Informatik irgendwie „Jungssache“ ist. Wir beide wollen Mädchen zeigen, dass sie genauso das Zeug für MINT haben wie Jungs und wir wollen die Vorbilder sein, die wir gebraucht hätten als junge Erwachsene. 

Schauen wir einmal auf Starcode in Berlin: Wie ist der Zuspruch auf eure Initiative und mit welchen Schulen und Universitäten kooperiert ihr momentan?

Lin: Der Zuspruch auf unsere Initiative hier in Berlin ist sehr positiv. Wir merken, dass sowohl Schülerinnen als auch Lehrkräfte großes Interesse daran haben, Mädchen frühzeitig für die IT zu begeistern und ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem geschützten Rahmen erste Erfahrungen zu sammeln. Momentan kooperieren wir mit mehreren Schulen, darunter die Königin-Luise-Stiftung, das Carl-Friedrich-von-Siemens-Gymnasium und die Katholische Schule Sankt Franziskus. Zudem arbeiten wir eng mit dem Makerspace der Staatsbibliothek in Berlin zusammen. Diese Partnerschaften sind für uns sehr wichtig, weil sie uns helfen, unser Angebot direkt zu den Schülerinnen zu bringen und ihnen den Einstieg in die Informatik zu erleichtern. Zudem bauen wir gerade weitere Kooperationen auf, um unser Netzwerk noch weiter auszudehnen und noch mehr Mädchen zu erreichen. Über neue Kooperationspartner freuen wir uns immer. 

Starcode ist als Initiative der Technischen Universität Berlin gestartet, aber wir haben Mitglieder aus fast allen Universitäten und Hochschulen in Berlin und sogar aus Potsdam. Bei uns ist also jeder willkommen, der unsere Mission unterstützt und sich für mehr Diversität in der IT einsetzen möchte. Diese breite Basis an Unterstützung zeigt uns, dass viele Menschen das gleiche Ziel verfolgen und bereit sind, gemeinsam mit uns daran zu arbeiten, die Gender-Imbalance in der IT zu überwinden.

Wie findet euer Outreach primär statt? Läuft das über Kooperationen oder holt ihr die Zielgruppen ganz klassisch über Social Media ab?

Kira: Unser Outreach findet auf mehreren Ebenen statt, um möglichst viele Mädchen und junge Frauen zu erreichen. Ein großer Teil läuft über unsere Kooperationen mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Diese Partnerschaften sind essenziell, weil sie uns direkten Zugang zu den Schülerinnen ermöglichen und uns helfen, unser Programm genau dort anzubieten, wo es am meisten gebraucht wird. Daneben nutzen wir auch verschiedene digitale Kanäle, um unser Angebot bekannter zu machen. Eine Plattform, die wir sehr aktiv nutzen, ist nebenan.de, da wir hier gezielt lokale Communities ansprechen können und auch die Eltern erreichen können, die gerade für die jüngeren die gesuchte Zielgruppe sind. Auch Instagram setzen wir ein, um vor allem jüngere Zielgruppen direkt anzusprechen und ihnen einen Einblick in unsere Aktivitäten und Erfolge zu geben. Zusätzlich haben wir einen klassischen E-Mail-Verteiler, über den wir regelmäßig Updates und Informationen an Interessierte und Unterstützer*innen versenden. Unsere Strategie ist also eine Mischung aus direkter Zusammenarbeit mit unseren Partnern und digitalem Outreach.

Welche Bereiche sind derzeit am gefragtesten und bieten die besten Karrieremöglichkeiten für junge Frauen? Habt ihr bereits Veränderungen in der Wahrnehmung oder im Interesse von Mädchen und jungen Frauen an MINT-Fächern beobachtet, seit der Fokus auf KI zugenommen hat? Wenn ja, wie äußern sich diese Veränderungen?

Lin: Wir mussten ein bisschen schmunzeln bei der Frage. Welche Bereiche und daraus folgende Karrierechancen für junge Frauen gerade besonders interessant sind, sind eben genau diese, die es für junge Männer auch sind.

Klar, KI geht auch an unseren Kursteilnehmerinnen nicht unbemerkt vorbei. Allerdings ist interessant zu sehen, dass viele Verknüpfungen nicht gemacht werden. Aus den letzten Kursen können wir aus Erfahrung sagen, dass KI immer gleichgesetzt wird mit ChatGPT. Dass auch Siri und Alexa KI-gesteuerte Systeme sind, wird häufig mit Staunen aufgenommen. Ähnlich wie das ganze Gebiet der Informatik, ist das Thema der KI gerade für Kinder und Jugendliche sehr abstrakt. Das KI aber natürlich sehr alltäglich und aktuell ist und in der Zukunft auch nicht mehr aus der Informatik wegzudenken ist, ist aber natürlich auch uns klar. Derzeit entwickeln wir gerade einen neuen Kurs zum Thema KI, um den Mädchen auch dieses wichtige Thema näher zu bringen und wir sind uns sicher, es wird auch weiter in zukünftige Kursentwicklungen eingehen.

Im September gehen eure neuen Kurse an den Start. Was steht im Fokus und was erhofft ihr euch daraus?

Kira: Wir sind wirklich begeistert, wieder loslegen zu können! Unser Fokus liegt auf der Vermittlung grundlegender Informatikkenntnisse und Programmierfähigkeiten auf eine Weise, die sowohl verständlich als auch motivierend ist.

Wir haben die Kurse so gestaltet, dass sie praxisnahe Projekte enthalten, die den Schülerinnen die Möglichkeit geben, ihr Wissen direkt anzuwenden. Dies kann das Programmieren einfacher Webseiten oder das Erstellen von kleinen Spielen umfassen. Der Schwerpunkt liegt auf der Förderung von Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten sowie auf der Stärkung des Selbstvertrauens der Teilnehmerinnen.

Wir erhoffen uns, dass die Schülerinnen durch diese Kurse nicht nur technische Fertigkeiten erlernen, sondern auch ein gesteigertes Interesse an der IT entwickeln. Unser Ziel ist es, ihnen eine solide Grundlage zu bieten, die sie in weiteren Kursen oder in ihrer zukünftigen Karriere nutzen können. Gleichzeitig hoffen wir, dass wir durch den persönlichen Kontakt und die Begeisterung, die wir in unsere Kurse einbringen, einen positiven und langfristigen Einfluss auf die Karriereentscheidungen der Mädchen haben können.

Im Bereich IT werden Talente händeringend gesucht und Berlin ist ein Fixpunkt für viele Talente weltweit. Was macht aus eurer Sicht die Stadt und den Standort so attraktiv?

Kira: Wir denken, Berlin ist einfach durch die Größe sehr interessant. Je größer die Uni und die Stadt, desto mehr Angebote gibt es. So findet jeder genau die kleine Nische, in die sie oder er reinpasst. Über die Uni gibt es viele Angebote verschiedenste Sachen auszuprobieren und durch die große Anzahl an Studierenden, die verschiedenste Projekte, die umgesetzt werden. Man hat einfach die Möglichkeit genau das zu finden, was einen wirklich interessiert. Und das gilt sowohl für Studieninteressen, das Freizeitleben als auch für spätere Jobmöglichkeiten.

*Das Gendersternchen hinter einem Wort dient als Verweis auf den Kontruktionscharakter von „Geschlecht“. Wir verwenden das „*“ hinter Frau und Mädchen, um darauf zu verweisen, dass sich diese Begriffe auf alle Personen beziehen, welche sich als solche definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen.