Menschen in Berufsfeldern wie Handwerk, Logistik und Altenpflege stehen tagtäglich vor der Herausforderung, enorme körperliche Anstrengungen zu bewältigen. Die Folgen sind oft Überlastung und Rückenschmerzen.
German Bionic hat eine innovative Lösung entwickelt, um diesen Belastungen entgegenzuwirken: KI-gestützte Exoskelette. Diese technologischen Hilfsmittel, basierend auf Maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz, haben das Potenzial, die Arbeitswelt in diesen Branchen nachhaltig zu verändern.
In unserem Interview mit Norma Steller, Chief Product Officer (CPO) bei German Bionic, wollten wir erfahren, wie sie die Entwicklung von Exoskeletten vorantreibt und welche innovativen Technologien und Anpassungsmöglichkeiten es gibt, um den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen der Mitarbeiter*innen gerecht zu werden.
Als Chief Product Officer bei German Bionic spielen Sie eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Exoskeletten. Wie sind Sie zu diesem spannenden Feld gekommen und was motiviert Sie an Ihrer Arbeit am meisten?
Ich arbeite seit knapp fünf Jahren im Team von German Bionic. Meine primäre Verantwortung liegt in der Entwicklung der eingesetzten Software. Dazu gehören das inhouse entwickelte Exoskelett-Betriebssystem, German Bionic OS, die Cloud-Plattform German Bionic IO und der KI-basierte Smart Safety Companion, der in Echtzeit Arbeitsschutzempfehlungen an Nutzende ausgibt. Meine Motivation, und übrigens auch die vieler meiner Kolleg*innen, ist relativ einfach erklärt: Ich möchte, dass Menschen nicht mehr aufgrund von körperlich schwerer Arbeit, und damit einhergehend durch gesundheitliche Probleme, in ihrem Leben und in ihrer Teilhabe eingeschränkt werden. Im Kern geht es mir darum, dass Menschen faire Bedingungen vorfinden – und zwar überall. Exoskelette sind für mich eine Lösung, körperlich arbeitende Menschen sinnvoll zu unterstützen. Zudem ist es ein spannendes technologisches Feld, in dem ich und meine Kolleg*innen interdisziplinär seit Jahren Pionierarbeit leisten.
Mitte Juni präsentieren Sie auf der VivaTech in Paris eine neue Lösung für den Healthcare-Bereich. Was packen Sie ein und warum lohnt sich ein Besuch an Ihrem Stand?
Wir werden in Paris unser neues Apogee+ präsentieren. Dabei handelt es sich um eine Produkt-Iteration unseres aktuellen Exoskelett-Modells „Apogee“, das wir im Januar auf der CES in Las Vegas vorgestellt haben. Das Apogee+ wurde speziell für Anwendungen im Bereich Alten- und Krankenpflege weiterentwickelt. Besuchende können auf Europas größter Tech-Show erleben, wie einfach es ist, Menschen in Pflegeberufen gesund zu halten, indem man ihnen ein intuitives und sinnvolles Hilfsmittel zur Verfügung stellt. Zur Erinnerung: Wir brauchen jetzt dringend Lösungen in der Pflege, da laut einer aktuellen Pwc-Studie bis 2035 1,8 Millionen Pflegende fehlen werden. Es kommt jetzt auf jede*n einzelne*n der Mitarbeitenden an, die wir fit halten, da die Belastungen durch den sich zuspitzenden Fachkräftemangel immer weiter steigen und dadurch die Gefahr besteht, dass nochmal mehr Personal ausfallen könnte. Aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Charité in Berlin wissen wir, dass die Belastungen in dieser Berufsgruppe besonders hoch sind. Auch signalisieren uns diverse Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, dass sie händeringend auf praktikable technologische Unterstützung für ihre Mitarbeitenden warten.
German Bionic ist bekannt für seine smarten Exoskelette, die durch Künstliche Intelligenz und Machine Learning unterstützt werden. Wie unterscheiden sich diese intelligenten Tools von anderen Exoskeletten auf dem Markt und was sind die Vorteile für die Mitarbeitenden, die sie einsetzen?
Im Prinzip gibt es unseren Ansatz und das Feld der anderen Anbieter. Das Feld besteht größtenteils aus sogenannten passiven Exoskeletten, also mechanisch-analogen Geräten ohne KI und ohne aktive Antriebe. Dieser Ansatz ist zwar möglich, aber aus unserer Sicht immer ein Kompromiss.
Warum das?
Anwendende müssen Einschränkungen hinnehmen, was den Komfort angeht – unser Exoskelett passt sich den Nutzenden an. Das kann eine einfache Konstruktion mit Federzügen natürlich nicht leisten. Die zweite Einschränkung bezieht sich auf die Leistung: Wir geben den Nutzenden durch unsere angetriebenen Kraftanzüge Extra-Power hinzu. Passive Exoskelette können Kräfte lediglich umverteilen. Unterm Strich ist unser Anspruch, dass unsere Anwendenden keine Kompromisse eingehen müssen. Darum setzen wir auf intelligente Regelungen, mit denen sich unsere Exoskelette automatisch auf die Nutzenden einstellen, und wir setzen auf aktiven Support, also robotischen Antrieb, um die Körperenergie zu schonen.
Die Integration von Exoskeletten in die Arbeitsprozesse der Unternehmen erfordert eine sorgfältige Planung und Anpassung. Wie stellen Sie sicher, dass die Exoskelette für alle Anwender*innen geeignet sind und welche Anpassungsmöglichkeiten gibt es?
Wie bei allen Produkten kommt es darauf an, die Anwendenden und deren Bedürfnisse gut zu verstehen und das Problem herauszuarbeiten, welches gelöst werden soll. Wir wissen, dass unsere Nutzenden in ihrem Arbeitsalltag vielfältige Stressmomente haben, und darum muss das Exoskelett im Hintergrund stehen und viele Aufgaben autonom erledigen. Man muss kein Ergonomie-Experte sein, um die Produkte von German Bionic nutzen zu können. Wir setzen auf intuitive Interfaces (wie wir sie vom Smartphone kennen), bekannte Textilien (Weste und Rucksacksystem) und auf softwaregestützte Anlernphasen per On-Boarding-Assistent, indem das Exo sich selbst ausregelt. Zunächst ist die Entwicklung der Exoskelette nicht auf Kunden oder Anwendungsfälle ausgelegt, sondern auf den Anwendenden selbst. Welche Körperhaltung wollen wir moderieren (ergonomischer machen), welche Unterstützungs-Parameter sind für ein gutes Tragegefühl verantwortlich (Unterstützung, Kraftkurven, Empfindlichkeit) und welche davon lässt man den Anwender selbst einstellen? All das macht unser System automatisch.
Vor welchen technologischen und regulatorischen Herausforderungen stehen Sie bei der Entwicklung von Exoskeletten und wie gehen Sie damit um?
In den zurückliegenden Jahren haben unterbrochene Lieferketten die Entwicklung erschwert. Wir verbauen viele Spezialkomponenten (vieles aus dem Automobilbereich) und darum war es nicht immer möglich, die Entwicklung von Prototypen mit den gewünschten Komponenten umzusetzen. Da mussten wir flexibel und kreativ sein, um zum gewünschten Ziel zu kommen. Regulatorisch gibt es keine harten Hürden. Die Produktzulassung und die Sicherheitszertifizierung sind zentraler Bestandteil unserer Entwicklungsarbeit. Vielmehr würden wir uns wünschen, dass die gesamte Exoskelett-Industrie dort aktiver werden würde. Derzeit sind wir beispielsweise der einzige Hersteller mit einer TÜV-Zertifizierung im Markt.
Denn Exoskelette dürfen nicht nur nicht einschränken, sie dürfen vor allem keine zusätzlichen Gefahren verursachen (z. B. Quetschgefahren, die wir bei einigen passiven Systemen beobachten). Darum befürworten wir Initiativen zur Entwicklung eigener Normen und Zulassungspflichten für Exoskelette und beteiligen uns an medizinischen Studien, die die Wirksamkeit von Exoskeletten genauer und langfristig untersuchen.
Die Zukunft von Human Augmentation in der Arbeitswelt ist vielversprechend. Wie sehen Sie das Potenzial für Exoskelette und andere Human-Augmentation-Technologien in der Zukunft und welche Auswirkungen haben sie auf die Arbeitnehmenden?
Dass wir in der Zukunft deutlich mehr Unterstützung haben werden, als unsere Vorfahren, zeichnet sich schon jetzt ab. Intelligente Exoskelette unterstützen physisch arbeitende Menschen in allen Bereichen, indem sie dafür sorgen, dass Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz überall gewährleistet werden kann, indem das Tool dafür am Körper getragen wird. Exoskelette machen uns stärker und geben uns mehr Ausdauer. Generative KI-Anwendungen sorgen dafür, dass wir noch mehr „parallel“ arbeiten können und dadurch noch produktiver werden. Wieder andere KI-Anwendungen werden Prozessplanungen übernehmen und zum Beispiel Kalender verwalten und Termine planen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir immer mehr zu Pilot*innen in einem KI-Cockpit werden, und Exoskelette sind ein Teil dieses smarten Systems.
Wie kam es zur Entscheidung, die Forschung und Entwicklung in Berlin anzusiedeln? Wie sehen Sie Ihre Rolle im Tech-Ökosystem der Hauptstadtregion und seine Perspektiven?
Berlin hat ein wunderbar dynamisches Ökosystem, in dem eine gewisse Offenheit gegenüber Ideen herrscht. Man findet Gleichgesinnte, die über den Status quo hinaus gehen wollen und neue Lösungen suchen. Das gefällt uns gut. Als Hardware-Unternehmen sind wir dennoch ziemliche Aliens. Wir zeigen, dass man auch mit Hardware nicht nur erfolgreich sein kann, sondern dass man diese auch dynamisch, lean und zügig entwickeln kann.
Vielen Dank, Norma Steller, für Ihre Zeit!