Der eine wollte Pilot werden, der andere stellte bei einem Praktikum als Bankkaufmann fest, dass ihm diese verkaufende Rolle nicht liegt. Stattdessen landete er in der Wirtschaftspsychologie. Das sind die Geschichten von zwei der vier selbsternannten „Leidensgenossen”, die heute ihre Berufung gefunden haben: Seit der Gründung ihres HR-Tech-Start-ups „Aivy" im Januar 2020 helfen Boas Bamberger, David Biller, Florian Dyballa und Arbnor Raci Menschen, ihre Fähigkeiten sowie Potenziale zu erkennen und den richtigen beruflichen Weg einzuschlagen.
Das Dashboard der Aivy-App © Aivy
Innovative Challenges statt fader Fragebögen
Mit Aivy, das durch die Freie Universität Berlin mit dem EXIST-Gründerstipendium gefördert wurde, können junge Menschen, Bewerber und Berufstätige in kurzweiligen „Challenges“ spielerisch ihre Interessen, Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale und Kompetenzen entdecken. Nach zwei bis drei Minuten hat die Künstliche Intelligenz der App das Datenmaterial analysiert und liefert erste Vorschläge für Berufe, die zu 70 Prozent gefallen könnten. Nach fünf bis sechs Spielen hat sich der Kreis der möglichen Berufe auf etwa zehn reduziert. In manchen Fällen vermittelt die App, die für Android und iOS erhältlich ist, daraufhin passende Jobangebote für die individuellen Fähigkeiten und Potenziale. Alter, Aussehen oder Geschlecht hingegen spielen für die KI bewusst keine Rolle, möchte Aivy doch jegliche Diskriminierung in der Bewerber*innenauswahl verhindern. Das wissenschaftlich fundierte Verfahren hat aber nicht nur Vorteile für Arbeitnehmer*innen. „Davon profitieren letztlich auch Unternehmen. Diese erhalten Bewerber, die anhand diagnostischer Leistungswerte vorqualifiziert wurden, was das Risiko einer Fehleinstellung reduziert. Klasse statt Masse“, sagt Dyballa gegenüber dem Tagesspiegel. Im Vergleich zu bisherigen Auswahlverfahren wie Fragebögen bringt das Game-based-Assessment nach eigener Aussage zudem weniger sozial erwünschtes Antwortverhalten, eine 95-prozentige Nutzerakzeptanz und 80-prozentige Zeitersparnis für die Unternehmen. Die App kann von Unternehmen sowohl als Orientierungslösung (Self-Assessment) für Kandidaten*innen auf der eigenen Karriereseite genutzt werden, als auch nach der Bewerbung als frühzeitiges Auswahlinstrument (Pre-Assessment) dienen. Durch den Einsatz intelligenter Algorithmen kann das Start-up, das beim HR Award 2020 als „Newcomer of the Year“ ausgezeichnet wurde, außerdem Prognosen über zukünftigen Arbeitserfolg und -zufriedenheit machen und stetig optimiert werden.
Das Aivy-Gründerteam um Boas Bamberger, David Biller, Florian Dyballa und Arbnor Raci © Aivy
Zukunftslösung aus Berlin: Karrierekompass auf der Kandidatenseite
Einen langfristigen Ansatz verfolgt auch ein zweites Berliner HR Tech Start-up. „Wir möchten junge Talente nicht nur einmal für viel Geld vermitteln, sondern Studierende im 1. oder 2. Semester auf unsere App bringen, herausfinden, welche Jobs für sie passen, welche Interessen sie haben und dann eine Art Karriereleiter anbieten“, bringt Maximilian Willert, Gründer und Geschäftsführer von HYRE Solutions, die Vision auf den Punkt. Künftige Banker sollen einerseits mehr über die praktischen Seiten des Wunschberufs herausfinden. Andererseits soll auch der typische Weg dahin aufgezeigt werden: Vom Praktikum in der Industrie, etwa bis zur Junior-Stelle in der Auditing Company. „Auf der Kandidatenseite sein ist für uns wichtig“, betont er. Es gehe darum, eine langfristige Bindung mit dem Talent aufzubauen und viele Daten zu sammeln, um die ideale Position zu vermitteln. „Wenn jemand die App über ein Jahr lang nutzt, haben wir ein deutlicheres Profil, nicht nur einen Zeitabschnitt: So war Adriana am Tag x, sondern eine Entwicklung über 18 Monate“, erklärt Willert, der das Start-up 2020 gemeinsam mit Christof Mehlstäubler und Luca Lallopizzi gegründet hat, „dann kann man auch gewisse Indikationen über den Charakter und Soft-Skills geben.“ Skills wie die Fähigkeit Probleme zu lösen, Zielorientierung oder emotionale Intelligenz, die Arbeitgeber in Europa laut einer Studie der ManpowerGroup besonders schätzen. Bis HYRE all diese Funktionen erfüllt, kann es aber etwas dauern. Derzeit ist ein „Grundprodukt“ auf dem Markt, das sich auf die Vermittlung von Junior-Sales-Personal bei Tech Start-ups konzentriert und Studenten primär dabei unterstützt, einen guten Lebenslauf zu erstellen. Passende Profile leitet das HYRE-Team anonymisiert – ohne Foto, ohne Namen – an den künftigen Arbeitgeber weiter, der wiederum 80 Prozent davon zu Bewerbungsgesprächen einlädt. „Noch ist von unserer Seite sehr viel menschliche Arbeit im Spiel“, meint Willert, „Hightech testen wir erst im Hintergrund.“ So arbeitet ein Junior Data Scientist mit dem Feedback der Unternehmen an einem Matching-Algorithmus, der aber „am Tag 0 nicht alles übernehmen wird“ – wie der HYRE-Geschäftsführer betont. Vielmehr soll die KI in der Lage sein, immer mehr und mehr Aufgaben zu übernehmen. Ein Beispiel könnte das Verschicken automatischer Absagen an unpassende Profile sein. „Das menschliche Auge wird es aber immer geben“, ist Willert überzeugt, der zusätzlich zur App Campus-Botschafter als Ansprechpartner an Universitäten engagieren möchte, „dass wir die Vorauswahl treffen, ist unser Versprechen an den Kunden.“ Das „komplett neue System“ aus Berlin findet auch bei Geldgebern Anklang: HYRE durfte sich kürzlich über ein neues Investment von 500.000 Euro freuen. Bei einer erfolgreichen Finanzierungsrunde konnte HYRE kürzlich den HR-Chef von Roche, Profi-Fußballer Luca Waldschmidt, und als Lead-Investor den schwedischen Fond TVG gewinnen. Bei Letzterem handelt es sich um einen auf HR Tech spezialisierten Fond, der bisher nur in nordischen Ländern aktiv war und das Berliner Start-up als erstes Investment in Deutschland gewählt hat. „Mit TVG im Rücken, die uns als Zukunftslösung sehen, kann man 2021 viel von uns erwarten“, freut sich Willert über das Investment. Neben einer personellen Aufstockung des 5-köpfigen Teams sei unter anderem eine neue App-Version geplant, um den Talenten ein besseres Profil zu bieten und für alle den passenden Job zu finden.
Das HYRE-Gründerteam Maximilian Willert, Christof Mehlstäubler und Luca Lallopizzi © HYRE
Transparenz für die Blackbox
Aivy und HYRE sind nur zwei Beispiele dafür, dass Künstliche Intelligenz in die Personalsuche Einzug hält. Gerade bei der Vorauswahl und dem Sondieren von geeigneten Bewerber*innen können lernende Algorithmen die menschlichen Kollegen unterstützen. Der Meinung waren bereits 2017 mehr als die Hälfte der vom HR-Spezialisten CareerBuilder befragten amerikanischen Personalmanager*innen: Sie waren überzeugt, dass Künstliche Intelligenz innerhalb von fünf Jahren zur Normalität in der Personalverwaltung wird. Deutschland hingegen scheint beim Einsatz und der Akzeptanz solcher Verfahren noch etwas hinterherzuhinken: Laut einer Umfrage des Bundesverbands der Personalmanager (BPM) und des Ethikbeirats HR Tech aus dem Jahr 2019 setzten erst 16 Prozent der über 1000 befragten Personalmanager Künstliche Intelligenz in ersten Anwendungen ein, weitere 16 Prozent planen den Einsatz, rund 41 Prozent prüfen ihn. Ebenso viele sehen in der Technologie für die Personalsuche das größte Potenzial. Nur jeweils 12 Prozent der Befragten wollen hingegen die Auswahl der Mitarbeiter und deren Betreuung Algorithmen anvertrauen – auch, wenn diese Zeitersparnis und mehr Objektivität im Einstellungsverfahren versprechen. Letzteres ist aber nicht immer gegeben: Das Marktforschungsunternehmen Gartner sagt voraus, dass bis 2022 rund 85 Prozent der KI-Projekte fehlerhafte Ergebnisse liefern werden, weil Daten verzerrt sind oder Algorithmen von voreingenommenen Entwicklern programmiert und trainiert werden. Die Gefahr von Diskriminierungen zu vermeiden, ist eines der Hauptziele der EU-weiten DSGVO, und auch der deutsche Ethikbeirat HR Tech BPM setzt hier an. Richtlinien und Rahmenbedingungen sollen dazu beitragen, dass die Künstliche Intelligenz nicht die undurchschaubare „Blackbox“ bleibt, der blind vertraut wird. Das ist auch im Sinn der anwendenden Unternehmen, könnte eine Jobabsage aufgrund einer diskriminierenden Software-Empfehlung doch eine Schadensersatzklage zu Folge haben.
DIN-geprüft: KI macht Vorstellungsgespräche objektiv
Um solche negativen Folgen zu vermeiden hat das Deutsche DIN-Institut im Jahr 2020 eine Norm für KI im Recruiting-Prozess entwickelt. Das Regelwerk DIN Spec 91426 wurde auf Initiative und in Zusammenarbeit mit Deutschlands führendem Anbieter für Video-Recruiting Viasto erarbeitet. Das in Berlin sitzende, 2010 gegründete Start-up unterstützt Unternehmen, Job-Bewerber*innen über moderne, datenschutzkonforme Videobewerbungen kennenzulernen und die Auswahlprozesse mit zeitversetzten Videointerviews und -assessments zu digitalisieren. Seit etwa drei Jahren bietet Viasto seinen Kunden, zu denen unter anderem die Deutsche Telekom, Bertelsmann und die Europäische Zentralbank zählen, einen Algorithmus an, der differenziert aufeinander abgestimmte Interviewfragen generiert. Über 10.000 Fragen umfasst der Pool, aus dem die KI innerhalb weniger Augenblicke je nach Branche, Stelle, Hierarchiestufe und anderen Parametern einen optimalen Gesprächsleitfaden entwickelt. „Unsere KI basiert auf zehn Jahren Erfahrung im Video-Recruiting und zweieinhalb Jahren Entwicklungsarbeit mit Psychologen und KI-Spezialisten“, sagte Viasto-Mitgründerin Sara Lindemann gegenüber dem Spiegel. Ziel der Technologie ist es, die Interviews so zu strukturieren, dass sie nicht ausufern und die Kandidaten am Ende miteinander vergleichbar sind. „Dieses Tool ist das beste Beispiel dafür, wie KI dort hilft, wo es notwendig ist. Algorithmen, die Videos auswerten, sind dagegen noch lange nicht so weit, dass sie den Standards entsprechen, die einen Einsatz rechtfertigen würden“, fügt sie hinzu.
Stimmanalyse zeigt Potenzial von Bewerbern
Dr. Tony Lee, Konrad Gerbing und Syed Shahzaib Ahmed, die Gründer des Berliner Start-ups MindR (Anm.: abgeleitet von Mindreader) sehen das anders: Sie setzen auf die Technologie des Deep-Learnings, um in 3-minütigen Videopräsentationen auch die nonverbalen Muster von Bewerbern zu analysieren und Vorhersagen über Leistungserbringung zu treffen. „Wir konzentrieren uns derzeit auf die Verwendung von akustischen Hinweisen, die aus der menschlichen Stimme extrahiert werden, um das Potenzial von Stellenbewerbern zu identifizieren“, erklärt Dr. Lee, auf dessen Forschungsergebnissen die Idee beruht, „es ist wissenschaftlich erwiesen, dass unsere Stimme reichhaltige Informationen vermittelt, die ein Indikator für unsere Persönlichkeit, unseren Kommunikationsstil, unser Führungspotenzial und unsere sozialen Fähigkeiten sein können.“ Die Verwendung der Stimme als Indikator helfe auch, gängige menschliche Voreingenommenheit zu vermeiden, die oft bei persönlichen Gesprächen auftreten. Die Technologie möchte nicht nur Diskriminierung aufgrund von Aussehen, Geschlecht oder Rasse reduzieren und damit „einen Beitrag zu einer fairen zukünftigen Gesellschaft“ leisten. Unternehmen sollen damit in der Lage sein, schneller und kosteneffizienter qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Gleichzeitig würde das rasche Verfahren auch Arbeitnehmer motivieren, sich für eine Position zu bewerben, ist Lee überzeugt. Noch befindet sich das Start-up, das mit einem EXIST-Gründerstipendium gefördert wird, in der Phase des Pilotexperiments. Nach dem Testen und Validieren mit potenziellen Kunden möchte das Team Ende 2021 mit der Vermarktung des Produkts beginnen und damit zum Aufbau eines „nachhaltigeren KI-HR-Bewerber-Dreieck-Ökosystems“ beitragen. „Ich glaube, dass ein gut vorbereiteter KI-Service – der sowohl den Standards der DIN Spec 91426 als auch den KI-Vorschriften der EU entspricht – das Warten wert ist“, meint Dr. Lee.