Dr. Sebastian Bosse @ Heinrich Hertz Institute (HHI)

28 November 2023

"Das Potenzial von KI und IoT in der Landwirtschaft ist immens."

Während der globale Agrarsektor mit Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Ernährung einer ständig wachsenden Bevölkerung ringt, sind innovative Lösungen von entscheidender Bedeutung.

Dr. Sebastian Bosse arbeitet am Fraunhofer Heinrich Hertz Institut in Berlin in einem Projekt in Zusammenarbeit mit der FAO daran, durch dein Einsatz von Künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge Effizienz und Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft weltweit zu steigern.

Sie haben im vergangenen Jahr die Leitung der neu gegründeten ITU-Fokusgruppe „AI and IoT for Digital Agriculture“ übernommen. Welche Ziele und Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die Digitalisierung der Landwirtschaft auf internationaler Ebene und wie planen Sie, diese anzugehen?

Das Potential von KI und IoT in der Landwirtschaft ist immens. Beginnen wir mit dem klaren Nutzen, den diese Technologien bringen können. Durch IoT-Sensoren können Landwirt*innen Daten in Echtzeit sammeln, sei es zur Bodenfeuchtigkeit, zu Wetterbedingungen oder zur Pflanzengesundheit. Dies liefert eine fundierte Grundlage für Entscheidungen. Künstliche Intelligenz (KI) geht noch einen Schritt weiter und analysiert diese Datenmengen, um präzise Empfehlungen zu geben, sei es für die optimale Saatzeit, die perfekte Bewässerungsmenge oder zur Krankheitsprävention.

Wenn man das auf einen globalen Maßstab überträgt, wird das Ziel der Digitalisierung in der internationalen Landwirtschaft klar: die Ernährungssicherheit zu gewährleisten und dabei Ressourcen und Umwelt zu schonen. Mit einer steigenden Weltbevölkerung und begrenzten landwirtschaftlichen Ressourcen könnten KI und IoT helfen, die Effizienz der Nahrungsmittelproduktion zu steigern und dabei die Umweltbelastung zu minimieren.

Doch die Implementierung dieser Technologien ist nicht ohne Herausforderungen. Interoperabilität und Standards spielen hierbei eine entscheidende Rolle. In einer global vernetzten Welt müssen Systeme und Technologien miteinander kommunizieren können. Das bedeutet, dass ein Sensor, der in Deutschland hergestellt wird, genauso mit einem System in Kenia oder Brasilien kompatibel sein sollte. Standards stellen sicher, dass es keinen Flickenteppich von Technologien gibt, der die Einführung und Skalierung dieser Lösungen hemmt.

Ein weiterer kritischer Punkt auf internationaler Ebene ist der Technologiezugang. Während entwickelte Länder leichter auf fortschrittliche Technologien zugreifen können, könnten Entwicklungsländer ins Hintertreffen geraten. Dies könnte zu einem Technologieungleichgewicht führen, das die globalen Anstrengungen zur Ernährungssicherheit untergräbt.

Hinzu kommen Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit. Wenn Landwirt*innen weltweit Daten sammeln und teilen, wer hat dann Zugriff darauf? Und wie wird sichergestellt, dass diese Daten nicht missbraucht werden?

Und schließlich müssen kulturelle und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Was in einem Land als vorteilhafte Technologie angesehen wird, könnte in einem anderen aufgrund von traditionellen landwirtschaftlichen Praktiken oder sozialen Normen auf Widerstand stoßen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KI und IoT das Potenzial haben, die Landwirtschaft grundlegend zu transformieren, insbesondere auf internationaler Ebene. Die erfolgreiche Integration erfordert jedoch eine sorgfältige Berücksichtigung von Interoperabilität, Standards und den spezifischen Herausforderungen, die der globale Kontext mit sich bringt.

Wie könnte das konkret vor Ort aussehen?

Die Integration von KI und IoT in der Landwirtschaft vor Ort kann in vielfältiger Weise erfolgen und je nach den spezifischen Anforderungen und Gegebenheiten der jeweiligen Region variieren. Hier ein konkretes Szenario, wie es in einer Gemeinde oder in einem landwirtschaftlichen Betrieb umgesetzt werden könnte:

Stellen Sie sich einen landwirtschaftlichen Betrieb vor, der bisher traditionelle Methoden verwendet hat. Der erste Schritt wäre die Installation von IoT-Sensoren auf dem gesamten Feld. Diese Sensoren könnten Bodenfeuchtigkeit, Temperatur, Lichtintensität und andere wichtige Parameter überwachen. Diese Daten werden dann in Echtzeit an eine zentrale Datenbank oder eine Cloud-Plattform übertragen.

Ein spezialisiertes KI-System analysiert diese Daten kontinuierlich. Es kann vorhersagen, wann der beste Zeitpunkt zum Bewässern oder Düngen wäre, oder es kann frühzeitig auf sich ändernde Bedingungen, wie einen bevorstehenden Krankheitsausbruch oder Schädlingsbefall, hinweisen. Dies ermöglicht es den Landwirt*innen, proaktiv zu handeln und Ressourcen effizienter zu nutzen.

Drohnen könnten ebenfalls zum Einsatz kommen. Ausgestattet mit Kameras und anderen Sensoren könnten sie große Flächen überfliegen, um den Zustand der Pflanzen zu überwachen. KI-Modelle könnten die von den Drohnen gesammelten Bilder analysieren, um Anzeichen von Krankheiten oder Schädlingen zu erkennen, die möglicherweise übersehen wurden oder mit bloßem Auge nicht erkennbar sind.

Smart-Traktoren oder autonome Maschinen könnten programmiert werden, um bestimmte Aufgaben wie Pflügen, Säen oder Ernten, basierend auf den Daten und Vorhersagen der KI, durchzuführen. Diese Maschinen könnten auch mit anderen Systemen kommunizieren, um eine optimale Effizienz sicherzustellen.

In Bezug auf Interoperabilität und Standards, wäre es wichtig, dass alle diese Geräte und Systeme nahtlos miteinander kommunizieren können. Dies bedeutet, dass Sensoren, Maschinen, Drohnen und die zentrale Datenplattform nach denselben Standards arbeiten und Informationen ohne Hindernisse austauschen können.

Für die Gesellschaft vor Ort würde dies bedeuten, dass die Landwirtschaft präziser, effizienter und produktiver wird. Kleinbäuer*innen könnten durch den Einsatz dieser Technologien ihre Erträge steigern, den Einsatz von Chemikalien reduzieren und die Umweltauswirkungen minimieren.

Natürlich wäre eine solche Umstellung nicht ohne Herausforderungen. Investitionen in Technologie, Schulungen für Landwirt*innen und die Anpassung an neue Arbeitsmethoden wären erforderlich. Aber mit der richtigen Unterstützung und den richtigen Ressourcen könnte der Nutzen für die Gesellschaft und die Umwelt erheblich sein.

Am Fraunhofer HHI arbeiten Sie am Projekt „NaLamKI“, das sich auf die Nutzung von KI für nachhaltigen Pflanzen- und Ackerbau konzentriert. Könnten Sie uns Beispiele für die intelligente Methodenentwicklung entlang der landwirtschaftlichen Prozesskette nennen, an denen Sie beteiligt sind?

Das NaLamKI-Projekt setzt genau an der Interoperabilität, dem Datenaustausch und der nutzer*innenfreundlichen Bereitstellung von Künstlicher Intelligenz an. Im Prinzip kann man sich das verkürzt wie eine Zusammenfassung von Cloud-Speicher und KI-App-Store vorstellen. Die Methoden, die wir dabei entwickeln, adressieren eine Fülle verschiedener Anwendungsfälle:

In der roboterbasierten Inspektion im Obstbau navigiert ein autonomer Roboter durch Apfelplantagen. Ausgestattet mit Kameras und anderen Sensoren inspiziert dieser Roboter systematisch die Früchte. Mit Hilfe von KI-Modellen identifiziert er die Reife der Äpfel, ihre Größe und prüft auf Anzeichen von Krankheiten oder Schädlingen. Der Roboter sendet diese Daten in Echtzeit an eine zentrale Plattform, sodass die Landwirt*innen sofort Maßnahmen ergreifen können, beispielsweise um eine bestimmte Erntestrategie zu planen oder um kranke Bereiche zu behandeln.

Beim drohnengestützten Erkennen von Gelbrost überfliegt eine Drohne mit spezialisierten Sensoren und Kameras Weizenfelder. Die Kameras nehmen kontinuierlich Bilder auf, die von einem KI-System analysiert werden. Dieses System ist speziell darauf trainiert, die charakteristischen gelben Rostflecken auf Weizenblättern zu erkennen. Bei einem Befall sendet die Drohne geolokalisierte Daten, sodass die Landwirt*innen genau wissen, welche Teile ihres Feldes betroffen sind und diese gezielt behandeln können.

In Bezug auf die kamerabasierte Unkrauterkennung sind spezielle Bodenfahrzeuge oder Traktoren mit Kamerasystemen ausgestattet, die den Boden beim Durchfahren scannen. Die KI-Modelle in diesen Systemen sind darauf trainiert, Unkraut von Nutzpflanzen zu unterscheiden. Sobald Unkraut erkannt wird, kann das System es gezielt und präzise minimal mit Herbiziden behandeln oder mechanisch entfernen.

Für die satellitengestützte Wachstumsprognose werden Bilder von Satelliten verwendet, die die Erdoberfläche in regelmäßigen Abständen aufnehmen. Die KI analysiert diese Bilder, um Muster im Pflanzenwachstum, die Bodenfeuchtigkeit und andere relevante Faktoren zu erkennen. Auf Basis dieser Analysen erstellt die KI präzise Wachstumsprognosen. Die Landwirt*innen erhalten so wichtige Einblicke in das erwartete Wachstum ihrer Kulturen und können Entscheidungen in Bezug auf Bewässerung, Düngung oder Erntezeitpunkt fundiert treffen.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft erfordert eine zuverlässige Datenverfügbarkeit. Wie wird das NaLamKI-Projekt dazu beitragen, diese Anforderungen zu erfüllen und welchen Nutzen ziehen die verschiedenen Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette daraus?

Das NaLamKI-Projekt ermöglicht es Landwirt*innen, ihre Daten mit KI-Methoden zusammenzubringen. Dabei legen wir großen Wert auf Nutzer*innenfreundlichkeit, um die Methoden möglichst vielen Anwender*innen zur Verfügung stellen zu können.

Daten in der Landwirtschaft zu verstehen, setzt voraus, ihre inhärente Bedeutung als Werkzeug zur Informationsgewinnung und Entscheidungsfindung zu erkennen. Sie repräsentieren ein Wirtschaftsgut, weil sie bei richtiger Nutzung den Ertrag steigern, Ressourcen sparen und letztlich den finanziellen Erfolg eines landwirtschaftlichen Unternehmens beeinflussen können.

Künstliche Intelligenz intensiviert diesen Wert, da sie die Fähigkeit besitzt, diese Datenmengen nicht nur zu verarbeiten, sondern auch Muster, Zusammenhänge und Vorhersagen daraus zu erstellen, die für den menschlichen Verstand oft zu komplex wären. Dabei stellt KI sozusagen den Mechanismus dar, der das Potenzial dieser Daten freisetzt und sie in sogenannte „actionable Insights“ – also handlungsrelevante Erkenntnisse – umwandelt.

Das Training spielt in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Denn eine KI ist nur so gut, wie die Daten, mit denen sie trainiert wurde. Ohne ein qualitativ hochwertiges Training würde die KI möglicherweise falsche Muster erkennen, ungenaue Vorhersagen treffen oder wichtige Signale übersehen. Das Training der KI mit Daten aus der Landwirtschaft ermöglicht es, spezifische Modelle zu entwickeln, die auf die Anforderungen und Herausforderungen dieses Sektors zugeschnitten sind. Ein gut trainiertes Modell kann beispielsweise zwischen verschiedenen Pflanzenkrankheiten unterscheiden, den besten Zeitpunkt für die Aussaat vorhersagen oder den Wasserbedarf von Kulturen genau abschätzen.

Somit sind Daten nicht nur das Rohmaterial, das den Betrieb eines landwirtschaftlichen Unternehmens informiert, sondern auch die essenzielle Ressource für das Training und die Verfeinerung von KI-Systemen. Und in dieser Synergie zwischen Daten als Wirtschaftsgut und KI liegt der Schlüssel zur Zukunft der digitalen Landwirtschaft.

NaLamKI schafft dazu als Plattform-basierter Ansatz die Voraussetzung.

Inwiefern unterstützt das Projekt „NaLamKI“ die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele im landwirtschaftlichen Sektor? Welche Auswirkungen erwarten Sie auf die Umwelt und die Ressourcennutzung?

Das Projekt „NaLamKI“, welches für "Nachhaltige Landwirtschaft mit Künstlicher Intelligenz" steht, symbolisiert eine bedeutende Weiterentwicklung in der landwirtschaftlichen Branche. Durch den Einsatz eines Plattform-Ansatzes, der Daten und KI kombiniert, bietet es eine neue Dimension der landwirtschaftlichen Praxis, die tiefgreifende positive Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit hat.

Durch die Integration von KI in den landwirtschaftlichen Prozess können Landwirt*innen präzisere Entscheidungen treffen, die auf realen, aktuell gesammelten Daten basieren. Dies reduziert das Raten und die Unsicherheit in vielen Aspekten der Landwirtschaft. Beispielsweise kann ein KI-gestütztes Bewässerungssystem den Wasserbedarf von Pflanzen genau bestimmen und somit Wasserverschwendung verhindern.

Gleichzeitig kann die Kombination von Echtzeitdaten und KI helfen, den Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln zu minimieren. Durch die genaue Identifizierung und Lokalisierung von Schädlingen oder Krankheiten können die Landwirt*innen gezielte Behandlungen durchführen, anstatt ganze Felder zu besprühen. Dies reduziert nicht nur die Umweltauswirkungen, sondern auch die Kosten.

In Bezug auf die Ressourcennutzung wird NaLamKI dazu beitragen, den Landwirt*innen zu helfen, ihre Ressourcen optimal zu nutzen. Durch den Einsatz von KI-gestützten Vorhersagemodellen können beispielsweise Ernteerträge genauer prognostiziert werden. Dies hilft Landwirt*innen, ihre Lagerkapazitäten besser zu planen und die Lieferkette effizienter zu gestalten.

Die Umweltauswirkungen von NaLamKI werden in erheblichen Verbesserungen in Bezug auf den Erhalt der Biodiversität, die Verringerung von Treibhausgasemissionen und die Erhaltung von Wasserressourcen liegen. Wenn Landwirt*innen die genauen Bedürfnisse ihrer Pflanzen kennen und genau darauf reagieren können, wird die Landwirtschaft insgesamt umweltfreundlicher und weniger invasiv.

Zusammenfassend kann man sagen, dass NaLamKI im Doppelsinne nachhaltig ist: Das Potential liegt darin, die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird, nachhaltig zu verändern, indem es Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig Effizienz und Produktivität erhöht.

Ist NaLamKI ein Ansatz, der sich nur für Deutschland oder Europa eignet?

NaLamKI bringt den Vorteil hochgradiger Adaptivität mit. Nächstes Jahr werden wir den Ansatz nach Indien bringen, auf den dortigen Kontext anpassen und evaluieren. Damit werden wir auch dort einen konkreten Beitrag zur Transformation hin zu nachhaltigen und klimaresilienten Ernährungssystemen leisten.
Das Konzept von NaLamKI in Indien zu implementieren, bringt eine spannende Perspektive, aufgrund der spezifischen landwirtschaftlichen und technologischen Gegebenheiten des Landes. Indien hat ein großes landwirtschaftliches Potential, mit einer Vielzahl von Kulturen, die in unterschiedlichen agro-klimatischen Bedingungen wachsen. Gleichzeitig erlebt das Land einen raschen technologischen Aufschwung und hat eine junge, technikaffine Bevölkerung.
Darüber hinaus steht Indien vor dem Problem der Landfragmentierung, da viele Bäuer*innen über kleinere Landparzellen verfügen. NaLamKI könnte diesen Bäuer*innen ermöglichen, ihre begrenzten Ressourcen effizienter zu nutzen, indem es präzise Daten und Empfehlungen liefert, die auf ihre spezifischen Bedingungen zugeschnitten sind.

Allerdings müssen bei der Implementierung von NaLamKI in Indien auch kulturelle und infrastrukturelle Faktoren berücksichtigt werden. Es ist wichtig, die Technologie so zu gestalten, dass sie für Menschen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus und technischen Kenntnissen zugänglich ist. Ebenso ist es entscheidend, die lokalen Gemeinschaften in den Prozess einzubeziehen, um sicherzustellen, dass die Lösungen ihren tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen.

Vielen Dank, Dr. Sebastian Bosse, für Ihre Zeit!