Die Zahlen sind gewaltig: Ganze 2,8 Gigatonnen CO2 pro Jahr entfallen weltweit auf die Zement- und Betonindustrie und machen somit acht Prozent aller globalen CO2-Emissionen aus. Kein Wunder also, dass gerade hier das Thema der Dekarbonisierung und der Kampf gegen den Klimawandel eine besondere Rolle spielen und ein Umdenken angestoßen werden muss.
Bereits 2018 ging das junge Berliner Startup alcemy mit der Vision an den Start, die Zement- und Betonhersteller mit Hilfe von prädiktiver KI-Technologie zu befähigen, den Übergang zu einer klimaneutralen Industrie erfolgreich zu vollziehen. Das Team um die Gründer Leopold Spenner und Dr. Robert Meyer hat sich jüngst das ehrgeizige Ziel auf die Fahnen geschrieben, bis 2030 gemeinsam mit ihren Kunden mindestens 100 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einzusparen. #ai_berlin hat CEO Leopold Spenner getroffen, um mehr über ihre ausgeklügelten Lösungen, die gleichzeitigen Rufe nach bezahlbarem Wohnraum und Nachhaltigkeit sowie ihre Initiative “Sustainable Concrete Leaders” zu erfahren.
Hallo Herr Spenner. Bei Nachhaltigkeitslösungen denken viele nicht als Erstes an die Bauindustrie mit ihrem massiven Bedarf an Beton und Zement. Wie sind Sie zum Thema gekommen und was war der Grund für die Gründung von alcemy?
Das stimmt. Der Gebäudesektor ist erst in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dabei ist er weltweit für 38 Prozent des CO2 verantwortlich. Beim Bauen selbst wird auch eine Menge CO2 emittiert. Alleine auf die Baumaterialien Beton und Zement gehen rund 8 Prozent der globalen Emissionen zurück. Für mich war dieser Umstand schon früh sehr präsent: Meine Familie ist seit fast 100 Jahren in der Zement- und Betonindustrie tätig und ich habe einen Großteil meiner Kindheit im Zementwerk in Erwitte verbracht. Als 2005 der Europäische Emissionszertifikatehandel (ETS) eingeführt wurde, bekamen die CO2-Emissionen und die dringende Dekarbonisierung eine ganz andere Rolle. Ich fühlte mich verantwortlich und wollte meinen Beitrag dazu leisten, Lösungsansätze zu finden, um den CO2-Fußabdruck der Industrie zu senken.
Ein großer Hebel zur Senkung der CO2-Emissionen ist die Herstellung von Zementen mit deutlich weniger Zementklinker, also dem Vorprodukt von Zement, der für den Hauptteil des CO2 verantwortlich ist. Wenn ich diesen Anteil absenke, wird die Herstellung von Zement und Beton generell anspruchsvoller. Schwankungen in der Herstellung wirken sich dann noch stärker auf die Qualität aus. Mir war bewusst, dass es eine datengetriebene Regelungstechnik braucht. Als ich dann beim Entrepreneur First Program auf Robert Meyer traf, der das Machine Learning Team bei Flixbus mit aufgebaut hatte, kamen genau diese Themen zusammen: Regelungstechnik, basierend auf ML, und die Zement- und Betonherstellung. Voila, alcemy war gegründet.
Wie funktionieren Ihre Lösungen technisch und in welchen Bereichen werden Sie genau eingesetzt?
Wir bieten unseren Kunden im Zement-, wie im Transportbetonwerk eine integrierte Produktlösung an, d. h. wir stellen Software bereit, die bei der Herstellung des Zements und des Transportbetons bis hin zur Lieferung auf die Baustelle unterstützt. Damit ermöglichen wir eine exakte und engmaschige Qualitätsüberwachung entlang der gesamten Wertschöpfungskette und enablen die Hersteller dazu ihre Produkte schrittweise klinkerärmer bzw. CO2-reduzierter zu machen.
Für unser Produkt im Zementwerk bedeutet das konkret, dass wir fortlaufende Analysen der qualitätsrelevanten Daten aus Chemie, Mineralogie und Korngrößenverteilung ermöglichen. Zum einen erhalten unsere Kunden dadurch einzigartige Prognosen für Qualitätsparameter und zum anderen Berechnungen von Sollwerten zur Optimierung der aktuellen Zementproduktion, die automatisch in den Prozess zurückgespielt werden. Damit befähigen wir Zementproduzenten dazu, signifikant profitabler zu produzieren, ihre Energiekosten zu senken und sich auf die Produktion nachhaltiger Zemente zu fokussieren – alles bei gleichbleibender Qualität.
Mit unserem Produkt für Transportbetonhersteller bilden wir die Brücke bis zur Auslieferung des Betons auf die Baustelle. In der Transportbetonherstellung muss mit den anspruchsvolleren klinkerarmen Zementen umgegangen werden, die generell weniger Wasser benötigen. Mit Hilfe unserer Echtzeit-Prognosen ermöglichen wir eine laufende Überwachung der Konsistenz des Frischbetons – ein Qualitätsparameter, der enorm wichtig für die Baustelle selbst ist. Dabei nutzen wir bestehende Daten aus dem Mischwerk und ergänzen mit Sensordaten aus dem Fahrmischer, den wir dazu mit IoT-Sensorik, wie einer digitalen Wasseruhr, Magnettaster, Öldrucksensor und Telemetrie-Einheit, ausgestattet haben.
Damit geben wir den Produzenten wertvolle Insights über den Ist-Zustand des Betons, wie er tatsächlich auf der Baustelle ankommt und Transparenz und Sicherheit in der Produktion.
alcemy läuft mittlerweile bei einem Drittel aller deutschen Zementwerke und Sie sind bereits in sechs weiteren Ländern aktiv. Ihre Lösung scheint in dieser in Bezug auf die Digitalisierung oftmals noch sehr traditionell aufgestellten Industrie gut anzukommen?
Mittlerweile beschäftigt das Thema der Dekarbonisierung die Zement- und Betonindustrie weltweit. Mit der steigenden Nachfrage, aber auch dem EU-Emissionshandel, der seine volle Kraft in den kommenden Jahren entfalten wird, ist die Dekarbonisierung nicht nur eine Frage der Überzeugung, sondern zunehmend auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Wir ermöglichen es unseren Kunden, sich an der Spitze einer transformierenden Industrie zu positionieren und neben der Vermeidung von CO2-Emissionen auch das Thema digitale Qualitätssicherung anzugehen. Das mag so banal klingen, ist aber enorm wichtig. Die Baubranche hat generell ein großes Problem neue Fachkräfte zu gewinnen. Sehr gut ausgebildete Menschen in der Zement- und Betonindustrie gehen in den nächsten Jahren in Rente. Dabei wird die Herstellung klimafreundlicherer Zemente und Betone in Zukunft anspruchsvoller und herausfordernder. Hier liefern wir mit alcemy Mehrwerte beim Thema Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung, was zu Recht von vielen Herstellern als essentiell und wichtig wahrgenommen wird.
Zement ist ein Trillion-Dollar-Business und der Ruf nach neuem Wohnraum ist in Deutschland und international ungebrochen. Wie empfinden Sie die Nachfrage nach grüneren Lösungen, wie die Ihre, wenn es tendenziell mehr nach dem Schneller-Höher-Weiter-Prinzip geht?
Um ehrlich zu sein, denke ich, dass grüne Lösungen die Grundlage bilden, um den großen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Besonders mit Blick auf den von Ihnen angesprochenen Ruf nach Wohnraum ist heute klar, dass wir Lösungen wie alcemy brauchen, um dieser Nachfrage zeitgemäß zu begegnen. Die weltweite Urbanisierung führt dazu, dass wir in Zukunft viel mehr Bauen werden. Beton ist hierbei das Baumaterial der Gegenwart und der Zukunft. Es wird keine Möglichkeit geben, das Baumaterial in seiner Gänze zu ersetzen, daher müssen sich “grüne Lösungen” darauf fokussieren, den CO2-Fußabdruck des Betons so weit wie möglich zu reduzieren.
Lassen Sie uns über die Initiative "Sustainable Concrete Leaders" sprechen. Was steckt dahinter?
Um die vollständige Dekarbonisierung der Wertschöpfungskette Beton voranzutreiben, wird es nicht ausreichen, nur Innovation auf der Produktionsseite zu fördern. Ein zentraler Baustein der Bauindustrie sind Projektentwickler und Baufirmen, die mit ihrer Nachfrage nach nachhaltigen Baustoffen enorm wichtig für unsere Mission sind. Wir haben uns deshalb entschlossen, das Sustainable-Concrete-Leaders-Netzwerk zu gründen, in dem wir Projektentwickler und Baufirmen miteinander vernetzen und beim Einsatz von nachhaltigen Betonen beraten. Mitglieder des Netzwerks, wie beispielsweise Art-Invest, EDGE, Momeni, Bonava und Co., sind Vorreiter in puncto Nachhaltigkeit und haben sich vorgenommen, den Einsatz von nachhaltigem Beton zu fördern. Wir bieten mit dem Netzwerk eine wichtige Plattform, um sich über Erfahrungen beim Einsatz solcher Betone auszutauschen. Derzeit wächst das Netzwerk stetig weiter und wir sind überzeugt, dass es eine wichtige Grundlage bildet, um den Einsatz nachhaltiger Betone zum neuen Standard zu machen.
Wo wir gerade über Innovationen zur Dekarbonisierung reden: Vier ihrer Kunden haben sich mit ihrer Unterstützung getraut, den sogenannten "CEM X" auf den Markt zu bringen. Was macht diesen Beton so besonders?
Der CEM X ist ein echter innovativer Durchbruch, der im Bereich nachhaltiger Zemente bzw. Betone neue Maßstäbe setzt. Heute wird leider noch sehr viel Beton mit hohem Anteil an Zementklinker eingesetzt. In Zukunft müssen Betone anders aussehen. Unser Kunde Spenner hat für die Zementwerke in Erwitte und Berlin gemeinsam mit uns über Jahre an einer neuen Zementsorte gearbeitet. Dieser sogenannte “CEM X” ist wirklich besonders, denn er weist nur noch einen Anteil von knapp 30 Prozent Zementklinker auf und nutzt den Ersatzstoff Kalksteinmehl (37 Prozent), der weitläufig verfügbar ist. Wir, aber auch die gesamte Industrie, glauben, dass genau solche Zemente in Zukunft enorm wichtig sein werden, um die Dekarbonisierung zu schaffen. Dieser CEM X, der dann zu einem Beton verarbeitet wird, wird auch beim Berliner Bauvorhaben EDGE Friedrichspark (nahe des Berghains) zum Einsatz kommen und deutliche CO2-Einsparungen ermöglichen.
Kommen wir auf Berlin zu sprechen: Was war der Grund, das Unternehmen hier zu gründen? Was sind die Vorteile, auch im Hinblick auf das KI-Ökosystem?
Als Rob und ich 2018 alcemy nach der Teilnahme an einem Programm von Entrepreneur First (EF) gegründet haben, haben wir uns überlegt, wo unser Hauptsitz sein könnte. Schnell fiel die Entscheidung auf Berlin. Wir fanden hier eine lebendige Startup-Szene mit vielen Vernetzungsmöglichkeiten und einer starken Netzwerkstruktur an Accelerator-Programmen und Mentoring-Sets vor. Die Möglichkeiten mit anderen Gründer*innen in den Austausch zu treten und Erfahrungen zu teilen, war insbesondere zu Beginn enorm wertvoll für Robert und mich. Das haben wir auch zu keiner Zeit bereut, denn im Kampf um die besten Talente ist der Standort Berlin schon ein großer Vorteil. Zwar sind wir ein Unternehmen, dass hybrid aufgestellt ist und jedes Teammitglied kann frei entscheiden, wann man ins Büro geht, dennoch erreicht man in Berlin durch die vielen Kontaktpunkte und anderen Startups viel schneller und gezielter gute Leute. Für die Weiterentwicklung unserer Produkte im Zement und Beton brauchen wir stets motivierte und gut qualifizierte Software- und Machine-Learning Developer. Berlin als KI-Standort und mit dem Hasso-Plattner-Institut direkt in der Umgebung, bietet für uns die Möglichkeit uns als modernes dynamisches Deeptech-Unternehmen mit einem spannenden Machine-Learning-System zu positionieren.
Besten Dank für das Gespräch und viel Erfolg.