Prof. Dr. Manfred Hauswirth, Fraunhofer FOKUS © Philipp Plum

08 Mai 2019

„Wir müssen in Europa aus der „Maus vor der Schlange”-Haltung und von KI-Nutzern zu KI-Entwicklern werden.“

Seit 2001 erforscht und entwickelt das Berliner „Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme – FOKUS“ die vernetzte Welt. Wie dabei KI zum Einsatz kommt und welches strategische Potenzial hinter maschinellem Lernen steckt, darüber hat #KI-Berlin hat mit dem geschäftsführenden Institutsleiter Prof. Dr. Manfred Hauswirth gesprochen.

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz im Fraunhofer FOKUS?

Wir sind kein klassisches KI Institut, aber – und das ist ein sehr großes Aber – wir verwenden es aus den Domänen heraus. Dazu zählen vernetztes Fahren, eGovernment oder auch Industrie 4.0. In diesen Bereichen treten immer wieder Fragestellungen auf, in denen wir KI verwenden und anwenden müssen. KI ist kein Allheilmittel, das muss laut gesagt werden. In einigen Bereichen gibt es aber gute Anwendungsfälle, wo es ein ausgesprochen nützliches Werkzeug ist.

Können Sie da Beispiele nennen?

Wir arbeiten bei FOKUS seit etwas mehr als zehn Jahren mit dem „Daimler Center for Automotive Information Technology Innovations (DCAITI)“. In enger Zusammenarbeit entwickeln wir mit modernsten KI-Methoden das autonome Fahren, was wir mittlerweile in verschiedenen Berliner Testbeds sogar im Straßenraum erproben. So wenden wir in unseren Versuchsfahrzeugen, die mit Kameras und Laserscannern ausgestattet sind, KI-Technologien zur maschinellen Wahrnehmung der Umgebung an. So gelingt es uns unter anderem, genaues, sich selbst aktualisierendes Kartenmaterial zu „erfahren“. Außerdem möchten wir vernetztes Fahren so gestalten, dass nicht nur mehrere Fahrzeuge miteinander „sprechen“, sondern sie darüber hinaus auch mit Nicht-Fahrzeugen wie Fußgängern, Radfahrern oder anderen kooperativ umgehen können. Dafür ist vorausschauendes Fahren notwendig. Das ist noch eine Herausforderung für KI!

In welchen anderen Bereichen werden KI-Lösungen gebraucht?

Ein norwegisches Unternehmen für nautische Messgeräte ist an uns herangetreten, um seine Kunden mit Messsystemen für Lachsfarmen zu unterstützen. Dort schwimmen in einem Netz bis zu einer Million Fische. Vermutlich funktioniert es, wie auf der Warenwirtschaftsbörse in den USA. Da kommt dann die Anfrage: Wir brauchen eine Million Lachse mit dem und dem Gewicht. Doch wie finden Sie das Netz, in dem die meisten Fische mit dem richtigen Gewicht schwimmen? Bisher stand die Lachsfarm vor dem Problem, keine genauen Aussagen über das Gewicht der Fische in den Netzen treffen zu können. Wir haben unser langjähriges Know-how aus der Bilderkennung verwendet, um in den Netzen mit extrem schlechter Sicht abschätzen zu können, wie groß und schwer die Lachse sind. Damit konnten wir die Auswahl der Lachse mit dem gewünschten Gewicht optimieren. Diese „optische Waage für Fische“ wird mittlerweile als Produkt vertrieben.

Von vernetzten Fahrzeugen bis zu Lachserkennung – die Bandbreite scheint groß...

Ja, nicht zu vergessen Anwendungen in der Medizin. Wir setzen Machine-Learning-Algorithmen für die Behandlung von Krebszellen ein. Hier geht es um die Fokussierung des Ultraschalls auf die Tumorzellen in einem Organ. Ähnliches wird bei Netzhautschädigungen durch Durchblutungsstörungen verwendet. Diese zu erkennen, ist extrem schwer. Da braucht man die KI, weil es Ärzten nur mit äußerst hoher Erfahrung gelingt. Hier sehen wir viele Anwendungsfälle von KI: Sie soll Routinetätigkeiten abnehmen, ohne vollkommen den Menschen zu ersetzen. Das gelingt auch im Behördenalltag. Es gibt hier zahlreiche Routineaufgaben von denen Verwaltungsmitarbeiter mit KI entlastet werden können. Zum Beispiel kann ein intelligentes Input-Management eingehende Schriftstücke gleich automatisch den richtigen Akten und Vorgängen zuordnen. Lernende virtuelle Assistenten können Bürgerinnen und Bürgern beim Behördengang helfen. Wir haben jüngst einen Prototypen für einen Sprachassistenten entwickelt, mit dem Bürgerinnen und Bürger Elterngeld beantragen können. Schwieriger sieht es bei Ermessensentscheidungen aus, bei denen der Verwaltungsmitarbeiter eigenen Entscheidungsspielraum hat. Hier kann KI derzeit lediglich unterstützend wirken und auch dann muss der Mitarbeiter verstehen, was die Maschine eigentlich tut bzw. wie sie zu bestimmten Schlussfolgerungen kommt. Mit dieser Transparenz hat KI heute noch so ihre Probleme. Aus meiner Sicht ist KI nur ein weiteres Tool. Man muss hier wie bei Big Data oder 5G die Erwartung und den Hype etwas hinunterfahren. Und bei dem, was übrig bleibt, wird auch Europa nicht auf der Strecke bleiben.

Wie meinen Sie das?

Wir müssen in Europa aus der „Maus vor der Schlange”-Haltung und von KI-Nutzern zu KI-Entwicklern werden. Wenn wir sagen, dass uns Amazon und Co. abhängen werden, stimmt das nicht. Die US-amerikanischen Konzerne haben nicht das Domänen-Wissen, das wir haben. Dadurch haben wir einen unglaublich strategischen Vorteil. Wir haben hier in Europa Weltmarktführer und sollten uns nicht den Schneid abkaufen lassen. Mir tut es im Herzen weh, wenn VW mit Amazon eine Partnerschaft eingeht. Die Kompetenz haben wir in Europa genauso. Auch China sehe ich nicht als Konkurrenz. Der Vorteil dort ist bloß der Zugang zu Daten. Daten sind extrem wichtig, ohne sie können Sie keine KI betreiben. Diese sollen aber keinesfalls so zentralisiert werden, wie in amerikanischen Großkonzernen. In Europa müssen wir uns überlegen, wie wir unser Potenzial strategisch nutzen – und das mit verteilten Systemen, datenschutzkonform und nachhaltig.

Sie sprechen über einen anderen Ansatz in Europa. Wie kann dieser gelingen?

Erstens: KI ist, wie gesagt, kein Allheilmittel. Der Nutzen muss vor einem Einsatz genau analysiert werden. In vielen Bereichen braucht man keine KI. Wenn es etwa um Prozesssteuerung in Produktionssystemen geht, machen das die Kollegen mit Hardware seit 40 Jahren ausgezeichnet. Da gilt der Leitsatz der Informatik: „Never change a running system“. Zweitens, man kann auch ein System verschlimmbessern. Je komplexer ein System wird – und durch den Einsatz von KI wird es komplexer –, desto mehr Fehlermöglichkeiten treten auf. Deshalb ist ein genaues Abwägen vorab wichtig. Darüber hinaus gibt es in der KI-Forschung viele offene Fragestellungen, die aber ein hohes wirtschaftliches Potenzial haben.

Welche wären das?

Eine mögliche Frage lautet: Wie kommen wir weg von der Zentralisierung? Im menschlichen Körper wird vergleichsweise viel an Informationen über das Nervensystem herausgefiltert, bevor sie ins Gehirn dringen. Es gibt eine Krankheit des Augennervs, bei der alles ungefiltert ans Gehirn gelangt – die Leute werden wahnsinnig. Ähnliches gilt für die KI. Die Frage der Verteilung würde auch für Antwortzeiten in Echtzeit sorgen. Dafür muss das KI-System maximal 50 km von der Datenquelle entfernt sein. Man braucht also eine verteilte Infrastruktur. Die muss man bauen. Es gibt aber derzeit noch keine Edge Clouds (Anm.: Clouds, die Datenströme ressourcenschonend an Ort und Stelle verarbeiten) zum Anfassen. Um das zu ändern, kooperieren wir mit der German Edge Cloud (GEC), einem Startup der Friedhelm Loh Group. Auf der diesjährigen Hannover Messe haben wir gemeinsam mit GEC eine Robotersteuerung gezeigt, die auf einem Edge-basierten 5G-Netz läuft. Das sind die spannenden Themen mit wirtschaftlichem Potenzial. Warum müssen die Sprachassistenten sämtliche Biodaten des Menschen in die Cloud übertragen? Nur, weil die Betreiber einen Nutzen daraus ziehen. Hier sind Gegenentwürfe notwendig.  

Was brauchen wir, damit diese Gegenentwürfe fruchten?

Wir müssen die Forschung und den Know-how-Transfer massiv fördern. Das heißt nicht, dass wir die Forschung überall ausbauen sollen, sondern sehr gezielt. Da brauchen wir schnelle Förderungen. Geschwindigkeit ist der Trick dabei. Wenn man auf EU-Gelder drei Jahre warten muss, ist der Zug abgefahren. Wenn ich höre, dass die deutsche Bundesregierung 500 Millionen Euro in KI investiert, ist das viel zu wenig. Das MIT alleine investiert zum Beispiel eine Milliarde Dollar. Und das ist „nur“ eine Universität. Gleichzeitig zeigt das allerdings unsere gute Leistungsfähigkeit: Wir schaffen in der Wissenschaft und Forschung mit geringen Fördermitteln sehr viel. Das müssen wir jetzt allerdings in die Wirtschaft übertragen. Dennoch sind mehr Fördermittel notwendig, die schnell ins Wissenschaftssystem und in den Technologietransfer fließen müssen.

Wie gelingt es mehr Fördergelder für den Technologiebereich zu akquirieren?

Erstens müssen wir als Wissenschaftler an die Wirtschaft herantreten und erklären, welchen Mehrwert sie durch Technologien haben können – jenseits der Heilsversprechen. Diese Laufarbeit ist bei Fraunhofer, das als gemeinnütziger Verein zu einem Drittel aus Steuergeldern finanziert wird, auch unsere Aufgabe. Jetzt hatten wir 70-jähriges Jubiläum, uns gibt es also schon eine ganze Weile. Wir sind mit 26.600 Mitarbeitern und einem Budget von 2.6 Milliarden Euro jährlich die größte Forschungsorganisation für angewandte Forschung in Europa. Wir haben Know-how in vielen Bereichen und bündeln bei diversen Fragestellungen die Expertise mehrerer Institute. Das tun wir auch in Berlin, etwa mit dem Leistungszentrum „Digitale Vernetzung”. In der Auto- oder Stahlindustrie ist angekommen, dass Fraunhofer die ausgelagerte Forschungseinrichtung für Unternehmen sein kann. Aber auch mit KMUs und auch Startups arbeiten wir eng zusammen. Anfängliche Berührungsängste versuchen wir durch Präsenz auf Messen oder Kooperationen mit der Handelskammer oder auch mit „Next Big Thing AG“, das Blockchain- und IoT-Lösungen für Startups anbietet, abzubauen. Da steckt aber noch sehr viel mehr Potenzial drin.

Was ist Ihre zweite Empfehlung?

Wir müssen mehr Fachkräfte ausbilden. Informatiker, Elektrotechniker, wer auch immer sich damit beschäftigt, es gibt nicht genug von ihnen. Das höre ich in Berlin und Deutschland immer wieder. Wir müssen aber auch gut bezahlte Positionen bieten. Wenn Amerikaner doppelt so viel offerieren, sind die Fachkräfte weg. Wir haben in der Informatik im deutschsprachigen Raum das Problem, dass viele ihr Studium nicht abschließen. Noch vor dem Bachelor sind sie so gefragt, dass die Ausbildung auf der Strecke bleibt. KI im Selbststudium funktioniert nicht. Die Absolventenquoten an den Unis sind deshalb so schlecht, weil die Leute keine Notwendigkeit sehen, einen formalen Abschluss zu erlangen. Sie verbauen sich zwar Weiterentwicklungsmöglichkeiten und letztendlich eine bessere Bezahlung, doch das wird nicht so wahrgenommen. Ich halte an der TU Berlin die Einführungsvorlesung ins Programmieren. 1.300 Studienanfänger sitzen bei mir zu Beginn in der Vorlesung – das ist meiner Meinung nach zu wenig. Es kommen so viele Firmen nach Berlin, weil sie in ihrer angestammten Umgebung keine Leute finden, auch wenn sie mit Einstiegsgehältern von 100.000 Euro und Dienstwägen locken. Es gibt de facto einfach niemanden.

Werfen wir zum Schluss einen Blick in die Glaskugel: Wie sehen Sie KI in der Zukunft?

KI muss im Grunde genommen eine Commodity werden. Heute sagt man: „Oh Gott, KI!“. Ich hätte gern einen Modulbaukasten, mit dem man branchenspezifische Modullösungen baut, die man in der Infrastruktur zum Einsatz bringen kann. Diese Infrastruktur bedeutet für mich Edge Cloud. Machine Learning in der Cloud – das Rennen darum ist gelaufen, da sitzt der Sieger in den USA. Mit Edge Cloud haben wir aus der Sicht der Informatik noch Möglichkeiten. Diese dürfen wir nicht verpassen.

Vielen Dank für das Gespräch.