Motor AI Co-Gründer Adam Bahlke © MotorAI

03 August 2021

„Wir sind heute eines der wenigen hardware-agnostischen und unabhängigen Unternehmen im Autonomen Fahren weltweit."

Das Versprechen aus den USA, dass vollautomatisiertes Fahren bereits 2020 keine Zukunftsmusik mehr sein würde, hat sich nicht bewahrheitet. Und doch ist gerade Deutschland drauf und dran, das weltweit erste Land zu werden, das vollautomatisiertes Fahren (Stufe 4) in festgelegten Betriebsbereichen im öffentlichen Straßenverkehr gesetzlich zulässt. Mittendrin: Das Berliner Unternehmen Motor AI, welches sich auf die Einhaltung der Sicherheits- und gesetzlichen Anforderungen der Europäischen Union spezialisiert. Motor AI entwickelt die Intelligenz für autonome Fahrzeuge der Level 4 und 5. Im Gegensatz zu rein maschinellen Lernsystemen, welche auf trainierten Situationen beruhen, soll das Motor AI System in völlig neuen Szenarien sicherere und nachvollziehbare Entscheidungen treffen können. #ki_Berlin hat mit Co-Gründer Adam Bahlke gesprochen.

Hallo Herr Bahlke. Sie haben gemeinsam Ihr KI-Startup Motor AI gegründet. Was liefert Ihr Produkt und wie sind Sie persönlich zum Autonomen Fahren gekommen?

Motor AI hat ein System zum Autonomen Fahren entwickelt, den „Autonomous Driver“, bestehend aus Umgebungswahrnehmung (Perception), Sensor Fusion und Entscheidungsfindung (Decision Making). Unser USP und Ursprung liegen im Decision Making.

Wir beschäftigten uns seit 2017 mit der Entscheidungsfindung mittels KI-Verfahren und gingen der Fragestellung nach, wie ein System Entscheidungen treffen kann, ohne dass die möglichen Entscheidungsszenarien mit immensen Datenmengen trainiert werden müssen. Praktisch formuliert gingen wir also der Frage nach, wieso ein Mensch nicht Milliarden von Kilometern zum Training für seine Führerscheinprüfung absolvieren muss, sondern nach 20-30 praktischen Fahrstunden reproduzierbar immer wieder neue Szenarien im Verkehr lösen kann.

Ursprünglich wollten wir damit nur die sogenannten Edge Cases im Autonomen Fahren lösen. Wir merkten jedoch sehr schnell, dass wir damit ein Entscheidungs-Framework für das gesamte „Decision Stack“ im Autonomen Fahren in der Hand hielten. Entsprechend des Entwicklungsprozesses, war es dann nur logisch, auch Perception- und Sensor Fusion zu entwickeln, was uns zu unserem heutigen Produkt bringt, dem „Autonomous Driver“ für ÖPNV und Logistik.

Sie setzen mit Ihrem Produkt auf Kognitive KI statt Machine Learning. Wie ist dies zu verstehen und wo liegen die Vorteile Ihres Ansatzes?

Kognitive KI ist in erster Linie ein Verfahren, statt ein spezifisches Model. Betrachten wir zunächst Deep Learning [Anmerk. Red.: eine Methode des maschinellen Lernens], so geht man davon aus, dass keine A-priori-Bedeutung der Daten besteht, die in ein Model einfließen. Deshalb werden verschiedene mathematische Verarbeitungen durchgeführt, um eine Bedeutung zu erschaffen. Manchmal funktioniert das ganz gut, andere Male wiederum erhält man ein Model, dass nicht verwendet werden kann – aber in beiden Fällen wissen wir als Mensch nicht, warum oder wie das Model zu seiner Entscheidung gekommen ist. Kognitive KI fängt genau mit den entgegengesetzten Prinzipien an. Die Daten haben eine A-priori-Bedeutung und sie müssen in bestimmten logischen Verfahren verarbeitet werden. Obwohl Deep-Learning-Ansätze bei der Wahrnehmung der Umgebung einen Vorteil haben, hat die Kognitive KI bei der Entscheidungsfindung, wo es juristisch betrachtet zwingend ist, rational, das heißt, erklärbar und kausal zu agieren, einen massiven Vorteil.

Die Vorteile liegen also auf der Hand, oder?

Wir haben uns zum einen für die Kognitive KI entschieden, da ihre Funktionsweise den Gesetzen Deutschlands und Europas entspricht. Zum anderen entstehen bei der Entscheidungsfindung im Autonomen Fahren so viele potentielle Szenarien, dass es eines Systems bedarf, dass Szenarien für sich selber erfassen und lösen kann, ohne dass es darauf trainiert wurde. In der Perception arbeitet man, im Vergleich zum Decision Making, mit relativ kleinen Datenmengen. Ein Objekt ist mit einem Datensatz von zwei Millionen gut annotierten Bildern mehr als ausreichend trainiert. Deep Learning ist hier absolut praktikabel.

Auf Basis der möglichen Entitäten und der Varianzen geht man im Decision Making jedoch von ca. einer Septilliarde Szenarien aus, eine 1 mit 45 Nullen. Ein Deep-Learning-System muss quasi mit einer unendlichen Anzahl an Trainingsdaten gefüttert werden, um ausreichend Entscheidungsszenarien zu lösen – eine Sisyphusarbeit. Und so lange sie nicht ausreichend mit Trainingsdaten versehen sind, bleiben Deep-Learning-Systeme im Autonomen Fahren bloße Blackbox-Systeme, die auf Wahrscheinlichkeiten beruhen.

Jeder kann sich bestimmt erinnern, als in Kalifornien vor fünf Jahren verkündet wurde, dass wir im Jahr 2020 autonome Fahrzeuge mit Level 4 auf den Straßen sehen werden. Der Grund, warum das nicht passierte, sind die unendlichen Variationen von Entscheidungsszenarien, die man zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Blick hatte. Ein kognitives System überwindet dieses Problem.

Es gibt ja Unternehmen, vor allem in den USA und China, die eher mit einem Blackbox-System arbeiten, d. h. auf einem nicht-deterministischen Algorithmus basieren. Wird ein solcher Ansatz Bestand vor der TÜV-Zertifizierung haben?

Durch Prof. Wolfgang Wahlster, damals noch CEO des DFKI, erhielten wir die Möglichkeit Teil der DIN-Kommission für KI im Bereich Mobilität zu sein. In der Kommission saßen wir plötzlich nicht nur mit Vertretern der Hersteller wie BMW und Volkswagen und der TIER1, sondern auch Vertretern des TÜVs an einem Tisch. Hierdurch erhielten wir einen Einblick in die verschiedenen Perspektiven zu genau dieser Frage.

Im Grunde genommen gibt es einen Spannungsbogen zwischen denjenigen, die die Gesetze zum Autonomen Fahren zu formulieren hatten und dabei vor allem den Ursprung für eine Entscheidung betrachteten und den Technikern, die darauf fokussiert waren, Autonomes Fahren technisch zu lösen, und dabei auf das Ergebnis der Entscheidung geschaut haben. Den Technikern wäre es am liebsten gewesen, die Gesetze an die Technologie anzupassen. Im Ergebnis würde man bei der Entscheidungsfindung im Autonomen Fahren auf Wahrscheinlichkeiten, statt auf Kausalketten abstellen. Eine gewaltige Veränderung, wenn man bedenkt, dass unsere Rechtsprinzipien seit der Römerzeit auf Kausalität beruhen. Die Diskrepanz zwischen beiden Sichtweisen führte zum Trolley-Dilemma, bzw. der bekannten ethischen Diskussion.

Um die technische Überprüfbarkeit nun wieder zu ermöglichen, bedient man sich eines Kompromisses, in dem man versucht gegebene Funktionen zertifizierbar zu machen. Motor AI entwickelte jedoch Software mit dem Ziel einer voll kausalen Überprüfbarkeit im Sinne einer deterministischen Entscheidung des Systems, d. h. eine interpretierbare und reproduzierbare Entscheidungsfindung.

Ein wichtiger Aspekt für eine Zulassung ist natürlich immer die Sicherheit und man erfährt aus der Presse ja immer wieder von Unfällen von autonom fahrenden Autos, beispielsweise in den USA. Können höhere Sicherheitsstandards durch einen logikbasierten Ansatz von Explainable AI (XAI) wie Ihrem gewährleistet werden?

Die Sicherheit ist das entscheidende Kriterium für die gesellschaftliche Akzeptanz. Gleichwohl wird es aber auch im Autonomen Fahren Unfälle geben, das muss uns bewusst sein. Daher sind wir der Meinung, dass das deutsche System, in dem ein unabhängiger Dritter als technischer Prüfer den immer wieder gleichen Maßstab an jedes System zum Autonomen Fahren legt, ein globaler Wettbewerbsvorteil ist. Wer hier ein interpretierbares und reproduzierbares System vorzuweisen hat, hat weltweit die Nase vorn, im Gegensatz zu den Systemen, die lediglich dem lokalen Rechtsrahmen entsprechen und ihre Sicherheitsstandards selbst setzen.

Sprechen wir über die gesetzlichen Rahmenbedingungen: Die Bundesregierung plant als erster Staat weltweit das vollautomatisierte Fahren (Stufe 4) in festgelegten Betriebsbereichen im öffentlichen Straßenverkehr gesetzlich zuzulassen. Der Bundestag hat das Gesetz bereits bestätigt, ebenso liegt der Beschluss des Bundesrates vor. Was bedeutet das für das Autonome Fahren allgemein?

Es wird erwartet, dass das Gesetz Anfang 2022 bekannt gegeben und damit in Kraft gesetzt wird. Sodann ist Autonomes Fahren Level 4 im Regelbetrieb für ÖPNV und Logistik in den von den Landkreisen ausgewiesenen Gebieten erlaubt.

Wir glauben, dass dieser Schritt bahnbrechend ist. Zum einen verlässt das Thema Autonomes Fahren damit den Testmodus und wird zu einem echten Wirtschaftsfaktor. Bisher eher theoretische, wirtschaftliche Multiples der Technologie werden damit real und der Einfluss der Technologie wird messbar.

Zum anderen beschleunigt es die Gesetzgebung anderer EU-Staaten. Schon jetzt gilt das deutsche Gesetz als Blaupause für die EU, ein Wirtschaftsraum gleichbedeutend mit den USA.

Wir erwarten dadurch eine Verschiebung von Venture Capital näher ans Geld, also in europäische Autonomous-Driving-Unternehmen, die bereits Umsatz erzielen.

Und was bedeutet das für ein Unternehmen wie Motor AI?

Als wir das Unternehmen 2017 gründeten, waren wir uns nicht sicher, ob ein Unternehmen wie das unsrige nicht besser in den USA aufgehoben wäre. Heute wissen wir, wir sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wir bringen autonome On-Demand-Fahrzeuge im ÖPNV Ende 2022 in Deutschland in den Regelbetrieb.

Was für Deutschland gilt, könnte bald für ganz Europa gelten, oder?

Das ist richtig. Das bürokratische und sicherheitsbedachte Deutschland hat jahrelange Fragen des Autonomes Fahrens gesetzlich und mit einem europäischen Mindset gelöst. Gerade die Verzahnung der europäischen Automobilindustrie wird dazu beitragen, dass relativ schnell weitere Länder der EU folgen werden.

Man neigt immer gerne dazu über den großen Teich zu schauen, wenn es um Autonomes Fahren geht. Was ist hier in Deutschland möglich, woran hakt es noch partiell? Wie ist es um die Förderung oder die Testfelder für Autonomes Fahren bestellt?

Langwierige Förderanträge, Abstimmungen mit dutzenden Projektpartnern, gerade auch bei der Nutzung der Testfelder, sahen wir immer schon als Problem. Wir haben als Unternehmen immer versucht so autark wie möglich zu arbeiten. Auch, wenn die Angebote da waren, wir haben uns immer gescheut, uns zu sehr an einen Strategen zu binden. Kooperation: Ja. Strategische oder sogar exklusive Partnerschaft: Nein. Wir sind damit heute, auch mit Blick über den großen Teich, eines der wenigen hardware-agnostischen und unabhängigen Unternehmen im Autonomen Fahren weltweit. Das verschafft uns jetzt enorme Vorteile. Egal, ob in der Sensorik oder bei der Wahl des Fahrzeugs selbst, wir sind frei in der Wahl der Zulieferkomponenten und ohne Abhängigkeiten. Das ist heute auch einer unserer Erfolgsfaktoren.

Was bietet das Berliner Ökosystem für Sie? Was macht den Standort für Sie so attraktiv?

Wir sind nicht zur Unternehmensgründung nach Berlin gezogen, daher gab es keine klassische Standortwahl. Attraktiv ist das Umfeld, das Bestehen einer Startup-Szene und deren Mindset. Berlins Größe hat eine natürliche Anziehungskraft, die daraus entstehenden widerstreitenden Interessen verhindern jedoch oftmals die Einführung von Innovationen. Die Entscheidungswege sind in Berlin einfach sehr lang. Hier wünschten wir uns mehr Flexibilität.

Die Entwicklung von autonom-fahrenden Autos hat in den letzten Jahren enorm Fahrt aufgenommen und viele Fortschritte gemacht. Fernab von Sci-Fi-Klischees: Wie sieht der Verkehr der Welt 2030 oder 2040 aus?

Viele Kollegen in unserer Branche haben schon gesagt, dass der Sprung vom normalen Fahrzeug zum autonomen Fahrzeug genauso revolutionär sein wird, wie es der Sprung vom Pferd auf das Auto in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Wir finden diese geschichtliche Parallele sehr passend. Denn sie verdeutlicht, welche tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen an der Schnittstelle des autonomen Fahrzeugs mit Dienstleistungen, die künftig mit diesem autonomen Fahrzeug verknüpft sind, geschehen werden.