Der 25. Mai 2018 ging in die Geschichte Europas ein. Es war der Tag, an dem die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zur Anwendung kam. „Ab dem Zeitpunkt war es für Unternehmen schwieriger, Daten zu teilen. Projekte sind on hold gegangen“, erinnert sich Marian Gläser, Mitgründer und Geschäftsführer des Berliner Start-ups „brighter AI“, „das war ein Problem für die gesamte Industrie.“ Doch für jedes Problem gibt es bekanntlich eine Lösung. Dieses Naturgesetz machte sich der gebürtige Berliner mit seinem Team zunutze: Die innovative Technologie von brighter AI, die sogenannte „Deep Natural Anonymization“, erkennt von Kameras erfasste personenbezogene Merkmale wie Gesichter oder Nummernschilder. „Für diese werden, in Echtzeit und mit Hilfe generativer Künstlicher Intelligenz, synthetische Bilddaten erzeugt und über die Originaldaten gelegt“, erklärt Gläser das Prinzip in einem Interview, „die Überlagerung sehen zwar echt aus, so dass Machine-Learning-Algorithmen auf diese angewandt werden können, gleichzeitig lassen sie sich aber nicht „zurückrechnen“ und erlauben somit keine Rückschlüsse auf die abgebildeten Personen.“ Im Bild ist also noch eine Person mit scheinbar normalen Gesichtszügen erkennbar, die eigentliche Person jedoch ist verzerrt und nicht mehr identifizierbar. So entstehen Videoaufnahmen, die die strengen Datenschutzrichtlinien der DSGVO in Europa, aber auch des California Consumer Privacy Act (CCPA) einhalten und die Identität von Personen im öffentlichen Raum schützen. Dass gleichzeitig die Kameradaten in Unternehmen für digitale Analytics- und Machine-Learning-Ansätze erhalten bleiben, unterscheidet die Technologie von früheren Versuchen, durch „Verpixelung“ oder „schwarze Balken“ die Privatsphäre abzusichern. Durch die Anonymisierungstechnologie von brighter AI müsse „Datenschutz kein Problemthema bleiben“, ist der Berliner überzeugt. „Die Unternehmen können sich auf ihre Ziele konzentrieren. Wir übernehmen den Datenschutz und bieten eine Lösung, die Privacy und technische Innovation vereint“.
Strategischer Kurswechsel: Von Nachtsicht zu Datenschutz
Dabei hat brighter AI seinen Erfolg weniger einem ausgeklügelten Plan als einem smarten Pivot zu verdanken. Ursprünglich hatte das Berliner Start-up, das 2017 als Spin-Off aus dem Inkubator des Autozulieferers und Lichtspezialisten HELLA gegründet wurde, eine andere Vision: Das Team um Marian Gläser und Mitgründer Patrick Kern entwickelte neuronale Netze, die aus Nachtaufnahmen von Infrarotkameras in autonomen Fahrzeugen wirklichkeitsgetreue Tageslichtversionen erzeugten. Bis zum historischen 25. Mai 2018. Seit diesem Zeitpunkt ist es rechtlich unmöglich, die dafür notwendigen Daten auf der Straße zu sammeln und mit Kooperationspartnern zu teilen. „Dass wir ein Jahr nach der Ausgründung einen Pivot gemacht haben, ist das Spannendste, das uns passieren konnte“, freut sich der IT- und Start-up-Experte Gläser im Nachhinein über den Kurswechsel, der dem jungen Unternehmen die Auszeichnung „Europe’s Hottest AI Start-up“ einbrachte. „Wir hatten immer den Hang dazu, Industrielösungen zu entwickeln, um Menschen zu befähigen. Das ist geblieben. Nur die Richtung ist anders und hat neue Opportunitäten geschaffen.“ Die Datenrichtlinien stellten nämlich nicht nur im Automotive-Sektor eine Herausforderung dar, wie das 20-köpfige Team von brighter AI merkte. „Sobald wir unsere Lösung erstmals auf der Bühne gepitcht haben, kamen bereits Anfragen aus dem Retail, der Medizin und Smart City“, so Gläser. Inzwischen ist die Anonymisierungstechnologie des Berliner Start-ups unter anderem in der Gefahrenerkennung, bei der Entwicklung intelligenter Store-Konzepte oder einer smarten Verkehrsplanung im Einsatz. Zu den namhaften Kunden zählen Intel, Valeo, Facebook oder auch die Deutsche Bahn.
Deutsche Bahn: Kameras gegen Corona
„Laut dem mindbox-Programm der Deutschen Bahn waren wir das erste Start-up, dass durch die Datenschutzlösung direkt mit Videodaten arbeiten konnte“, freut sich Marian Gläser über einen weiteren historischen Moment, an dem brighter AI teil hatte. Trotz rund 40.000 Kameras, die in Zügen und auf Bahnsteigen zum Einsatz kommen, konnte das Unternehmen die aufgezeichneten Daten bisher nur bei Sicherheitsthematiken oder sehr begrenzt nutzen. Dabei seien diese Informationen wichtig, um Personenströme intelligent zu leiten und so die Infrastruktur und die betrieblichen Abläufe zu optimieren und das gesamte Kunden- bzw. Reiseerlebnis zu verbessern. „Ein weiterer Aspekt war zu verstehen, wie sich die Leute im Zug verteilen, um die Auslastung in den einzelnen Wagons besser zu verteilen“, ergänzt Gläser, der beim Bundesverband Deutscher Start-ups als Sprecher für KI aktiv ist. Eine Fragestellung, die durch die Abstandsregelungen zur Eindämmung von Covid-19 schnell an Brisanz gewonnen hat. Um darauf Antworten zu finden, kommt seit Herbst 2020 die Technologie von brighter AI zum Einsatz: Nach einem erfolgreichen Pilotprojekt läuft seit Kurzem der Echtbetrieb in ausgewählten Zügen und die Lösung kann demnächst flächendeckend eingesetzt werden.
Europa: Vorbild für gesellschaftlichen Wandel
Nicht nur die Deutsche Bahn setzt auf brighter AI. Die Kunden des preisgekrönten Start-ups, das mit dem Deep Tech Award 2020 und The Spark – The German Digital Award von Handelsblatt & McKinsey ausgezeichnet wurde, befinden sich beispielsweise in Frankreich, Schweden oder Österreich. „Durch die DSVGO hat Europa das große Potenzial, Marktführer in Privacy Tech zu werden“, sieht Gläser die Entwicklung positiv, „es ist das erste Mal oder eines der wenigen Male, dass Europa Innovationen vorantreibt. Firmen wie wir, die an Lösungen arbeiten, sind ein Stückweit früher auf dem Markt und können unseren Kunden einen Wettbewerbsvorsprung schaffen.“ Das wissen nicht nur europäische Unternehmen zu schätzen. Auch in US-amerikanischen oder japanischen Konzernen sei das Interesse an der Anonymisierungstechnologie aus der deutschen Bundeshauptstadt groß. Zudem kämen immer mehr Anfragen aus China sowie von europäischen Unternehmen, die in der Volksrepublik Daten sammeln und datenschutzkonform nach Europa exportieren müssen. Um diesem steigenden Bedarf gerecht zu werden, hat brighter AI vor einem halben Jahr sein Angebot erweitert. Die Software muss nicht mehr – wie bisher – im eigenen Rechenzentrum des Kunden installiert werden, sondern steht auf einer zentralen Cloud-Plattform zu Verfügung. „Ob im eigenen Rechenzentrum oder bei uns – die Experience und Qualität sind dieselben“, betont Marian Gläser und freut sich, dadurch nicht nur große Enterprises bedienen zu können. „Selbst YouTuber fangen jetzt an, Daten zu anonymisieren“, was zeigt, dass über B2B2C-Modelle neue Kundengruppen erreicht werden. Dadurch kämen allein in der Cloud fast 1000 Stunden Videomaterial zustande, die von der KI prozessiert werden. „In den letzten eineinhalb Jahren konnten wir so pro Quartal die Daten, die wir anonymisieren, fast verdoppeln“, meint der brighter AI-Mitgründer.
Standort Berlin von internationalem Vorteil
Mit dieser Erfolgsgeschichte befindet sich das Start-up, das unter anderem eCAPITAL Entrepreneurial Partners und Giesecke+Devrient Ventures zu seinen Investoren zählt, in der Bundeshauptstadt in guter Gesellschaft. 28 Prozent der deutschen Unternehmen aus dem KI-Umfeld haben sich in Berlin-Brandenburg angesiedelt, bei den Start-ups sind es sogar die Hälfte. In einer kürzlich von der Berliner Technologiestiftung durchgeführten Studie wurden 223 KI-orientierte Unternehmen identifiziert, die rund 5.000 Mitarbeiter beschäftigen und einen Umsatz von fast 500 Millionen Euro erwirtschaften. Bis 2025 wird ein Jahresumsatz der KI-Unternehmen in Berlin von über zwei Milliarden Euro erwartet. Auch viele relevante Forschungseinrichtungen im Bereich Künstlicher Intelligenz sind in Berlin angesiedelt. Ein Umfeld, das brighter AI zu nutzen weiß: „Wir arbeiten insgesamt mit sechs verschiedenen Universitäten zusammen“, berichtet Marian Gläser, „mit dem Fraunhofer Institut läuft bereits das zweite Projekt.“ Als „Ursprungsberliner, den es immer wieder zurückzieht“ schwärmt der Gründer vom guten Ökosystem aus Start-ups und KI-Unternehmen sowie dem kreativen Austausch. „In Berlin gegründet zu haben und in diesem Umfeld zu sein, bringt uns international große Vorteile“, ist Gläser zudem überzeugt, „seit vier bis fünf Jahren wird Berlin als Innovationsstadt und -Hub wahrgenommen. Größere Firmen haben ihre Innovationsunits hier. Selbst Tesla kommt als Aushängeschild nach Berlin bzw. Brandenburg.“ Heimische Start-ups und Unternehmen wiederum wachsen und skalieren von der Bundeshauptstadt in die Welt. So plant auch brighter AI in absehbarer Zeit eine zweite Niederlassung in den USA.
Ziel: „Jede Identität in der Öffentlichkeit zu schützen”
Der Schritt über den großen Teich soll brighter AI seinem Ziel näher bringen, „jede Identität in der Öffentlichkeit zu schützen“. Dass es sich dabei nicht nur um ein leeres Versprechen handelt, zeigt ein kleines, aber für Marian Gläser wichtiges Projekt: Auf ihrer pro-bono-Plattform „protect.photo“ können Privatpersonen bis zu vier Einzelbilder kostenlos anonymisieren lassen. „Damit können etwa Personen Bilder von Demonstrationen wie Black Lives Matter hochladen, ohne dass ihre Identität preisgegeben wird. Sie können für etwas kämpfen, ohne verfolgt zu werden“, so der IT-Experte, „eine Verpixelung führt dazu, dass Bilder weniger geteilt werden, weil sie weniger emotional sind. Mit unserer Technologie bleibt die Emotion erhalten, während die Gesichtspunkte von Personen geschützt werden.“ Dass sich brighter AI an Einzelne richtet, soll aber eine Ausnahme bleiben. „Wir bleiben ein B2B-Unternehmen“, betont Marian Gläser. Denn: „Mit großen Unternehmen, die breit in der Öffentlichkeit Bilder sammeln und jede Person drei bis viermal aufnehmen, kommen wir der Einlösung unseres Versprechens, jede Identität zu schützen, sehr, sehr nah.“