Prof. Dr. Thomas Wiegand leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Martin Schell das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut (HHI), welches seit Jahren überaus erfolgreich an der Erforschung von Kommunikations- und Datenverarbeitungsmethoden arbeitet. Seit 2018 leitet Prof. Wiegand außerdem die ITU/WHO Fokusgruppe „Artificial Intelligence for Health“, in der KI-Algorithmen im Gesundheitsbereich weltweit evaluiert werden.
Das Fraunhofer HHI möchte die digitale Gesellschaft von Morgen mit exzellenter Forschungs- und Entwicklungsarbeit mitgestalten und ist dementsprechend breit aufgestellt. Als Institutsleiter haben Sie einen guten Überblick: An welchen Aspekten wird in Ihrem Haus im Bereich der Künstlichen Intelligenz geforscht?
Unsere Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz reicht von den Grundlagen bis in die Anwendungen. Zusammen mit Prof. Klaus-Robert Müller von der TU Berlin, haben wir in der Grundlagenforschung beispielsweise das Thema der Erklärbarkeit von KI stark vorangebracht. Dabei können wir zeigen, was bei einem Klassifikationsresultat, welches durch ein tiefes neuronales Netz geliefert wurde, dieses Ergebnis bewirkt hat. Dazu invertieren wir das nichtlineare Netz und zeigen, welche der Mechanismen im Netz und welcher Teil des Eingangssignals relevant sind. Unsere Arbeiten hierzu haben international viel Anklang gefunden, was durch Best Paper Awards, eine Vielzahl von internationalen Veröffentlichungen einschließlich des jüngst erschienenen Nature Communications-Artikels und durch viele Anfragen aus der Wirtschaft zum Ausdruck kommt. Weiterhin beschäftigen wir uns im Grundlagenbereich auch mit der Kompression, dem verteilten Maschinellen Lernen sowie mit der Entwicklung von neuartigen Methoden des maschinellen Lernens für moderne Mobilfunknetze wie 5G.
„Kooperation“ ist ein wichtiges Stichwort für die Arbeit des HHI als Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie. Wie sind Sie vernetzt und welche gemeinschaftlichen Projekte gibt es über die Institutsgrenzen hinaus?
Für viele Anwendungsprojekte sind Kooperationen mit den Forschenden aus den entsprechenden Fachgebieten, etwa aus der Medizin oder der Automobilindustrie, von größter Wichtigkeit. Am Fraunhofer HHI sind Dr. Wojciech Samek und Prof. Slawomir Stanczak mit ihren jeweiligen Teams beim Maschinellen Lernen aktiv in erfolgreichen Forschungskooperationen unterwegs.
Dr. Samek und sein Team entwickeln neuartige Methoden zur Analyse medizinischer Daten. Dazu gehören Zeitreihendaten wie EKG, EEG, EMG, Bilddaten wie CT, MRI, fMRI sowie Daten von Massenspektrometern. Das Analysieren von Gesundheitsdaten hat verschiedene Herausforderungen, insbesondere aufgrund deren hohen Dimensionalität, ihrer starken räumlich-zeitlichen Korrelation, fehlender Messungen und der vergleichsweise oft kleinen Stichprobengröße. Die Forschung konzentriert sich auf Deep Learning-basierte Methoden, die diese Herausforderungen meistern.
Die Forschung an der 5G-Netztechnologie und ihrer Möglichkeiten ist ein weiteres großes Steckenpferd am HHI.
Prof. Stanczak und sein Team beschäftigen sich mit dem Design und der Optimierung von modernen Funkzugangsnetzen, wobei der Schwerpunkt zurzeit eindeutig auf 5G liegt. Neue 5G-Anwendungen wie taktil vernetztes Fahren oder zuverlässige Fernmaschinenbedingung stellen extrem hohe Anforderungen an die Dienstgüte von 5G-Netzen. Dank des Maschinellen Lernens werden kritische Zustände, die extreme technische Störungen zur Folge haben können, frühzeitig erkannt, um deren Wirkung zu minimieren oder komplett zu vermeiden. Solche pro-aktive Mechanismen bilden die Grundlage für eine zuverlässige und resiliente Funkkommunikation im Automotive- und Industriebereich. Des Weiteren wird das Maschinelle Lernen das Management und den Betrieb von künftigen 5G-Campus-Netzen in Industrie 4.0. oder landwirtschaftlichen Großbetrieben drastisch vereinfachen. Das wird insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen zugute kommen, die über keine Expertenteams verfügen.
Um das Maschinelle Lernen in zukünftigen Netzen einzuführen, besteht ein großer Bedarf an der Standardisierung von Architekturen, Schnittstellen und Datenformaten, da die Standards die Zuverlässigkeit, Interoperabilität und Modularität eines Systems und seiner jeweiligen Komponenten erhöht. Deswegen leitet Prof. Stanczak seit 2018 die ITU-T Focus Group „Machine Learning for future networks including 5G“, die gerade eine ITU-T-Spezifikation zur Architektur von Maschinellem Lernen in 5G verabschiedet hat.
Bleiben wir bei Netzwerken: Wie beurteilen Sie den Standort Berlins als Ökosystem und Zentrum für technologische Innovation, besonders im Bezug auf das Gebiet der Künstlichen Intelligenz? Was unterscheidet Berlin von anderen Standorten?
Berlin hat eine herausragende Stellung in diesem Bereich. Es gibt eine sehr hohe Anzahl von BMBF- und BMWi-geförderten Projekten sowie von Aufträgen aus der Wirtschaft. Diese Konzentration verdeutlicht die weltweit hohe Sichtbarkeit des Standorts Berlin zum Thema KI. Darüber hinaus bringen wir für zukünftige Projekte die deutschlandweit einmalige Wissenschaftslandschaft in Berlin zusammen.
Bereits heute gibt es vielerlei Unternehmen und Projekte, die für ihre Anwendungen von Machine Learning und Deep Learning Gebrauch machen. Wie sehen Sie die Innovations- und Investitionsbereitschaft in Deutschland in Bezug auf Künstliche Intelligenz?
Damit KI breit in der Praxis und auch für sicherheitsrelevante oder lebenswichtige Anwendungen einsetzbar wird, sind weiter Fortschritte in den wissenschaftlich-technischen Grundlagen wichtig. Hinzu kommt, dass die für die Fortschritte notwendigen Daten vorhanden sein oder generiert werden müssen. Hier gilt es unsere ethischen Vorstellungen in Europa umzusetzen und vorne mit dabei zu sein. Deutschland hat Industrien und relevante Akteure in allen wichtigen Anwendungsfeldern.
Der öffentliche Diskurs über KI schwankt bekanntlich stark zwischen dem Für und Wider des technologischen Fortschritts. Wie sehen Sie die Chancen, Potentiale und Risiken für die Zukunft?
Ich werde gelegentlich gefragt, ob KI viele Arbeitsplätze kosten wird. Meine Antwort ist, dass ich fürchte, dass KI uns alle Arbeitsplätze kosten wird … wenn wir die Möglichkeiten der KI nicht nutzen, aber unsere internationale Konkurrenz schon. Digitale Daten und deren effiziente Kommunikation und Verarbeitung, zum Beispiel mit KI, sind gegenwärtig wahrscheinlich die wichtigsten wissenschaftlich-technologischen Innovationsmechanismen. Übrigens sind es exakt diese Themen – Sensorik, Kommunikation, Datenverarbeitung – mit denen sich das Fraunhofer HHI in seiner Forschung beschäftigt.
Welche Empfehlung haben Sie für Menschen/Unternehmen, die sich mit der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz beschäftigen wollen?
Lesen, lernen und ausprobieren – wie bei allem Neuen.
Vielen Dank für das Gespräch.