© National Cancer Institute / Unsplash

28 Oktober 2019

Das Potenzial Künstlicher Intelligenz bei der Tumorerkennung und -behandlung ist groß. Den Arzt ersetzt die Maschine jedoch nicht.

„Es gibt gute Chancen, dass wir in zehn bis zwanzig Jahren den Krebs besiegt haben“, mit dieser Aussage sorgte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Rahmen des Auftakts der nationalen Dekade gegen Krebs für Schlagzeilen. Auch mehr oder weniger renommierte Krebsforscher hatten in der Vergangenheit immer wieder die Heilung der Krankheit vorhergesagt. Allein, eingetroffen sind diese Prognosen bisher nicht. Vielmehr hat sich die Zahl der Neuerkrankungen an Krebs seit den 1970er Jahren fast verdoppelt. Mittlerweile erhalten etwa 500.000 Deutsche pro Jahr die Diagnose. Da das Erkrankungsrisiko bei vielen Krebsarten mit zunehmendem Alter steigt und unsere Gesellschaft immer älter wird, gehen Experten sogar von einer Zunahme auf bis zu 600.000 Fälle pro Jahr bis 2030 aus, wie es beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) heißt. Ein Anstieg ist allerdings nicht nur bei Neuerkrankungen zu verzeichnen. Ist Krebs in Deutschland heutzutage die zweithäufigste Todesursache, hat er in anderen reichen Ländern bei den 35- bis 70-Jährigen die Herz-Kreislauferkrankungen an der Spitze bereits abgelöst. Dieser Trend macht auch vor Deutschland nicht Halt.

Geheimwaffe Künstliche Intelligenz?

Die statistischen Hiobsbotschaften zeigen deutlich die Dringlichkeit, Krebs besser zu erforschen und zu behandeln. An beiden Zielen arbeiten Wissenschaft, Pharmaindustrie und Politik seit Jahrzehnten intensiv. Durch innovative Therapiemethoden und Medikamente konnten auch schon Erfolge verzeichnet werden. Den endgültigen Durchbruch soll jetzt eine besondere Geheimwaffe im Kampf gegen Krebs ermöglichen: Künstliche Intelligenz. „In den nächsten zehn Jahren wird KI die Medizin und damit auch die Pathologie revolutionieren“, ist einer der Vorreiter auf dem Gebiet, Prof. Dr. Frederick Klauschen, geschäftsführender Oberarzt am Institut für Pathologie an der Charité Berlin, überzeugt.

Datenmengen und Analysezeiten: Die Herausforderungen der modernen Medizin  

Heutzutage spielen bei der Diagnose von Krebs bildgebende Verfahren wie Röntgenuntersuchung, aber auch Computer- oder Magnetresonanztomografie (MRT) und Sonografie eine entscheidende Rolle, um Tumore zu lokalisieren. Eine weitere Diagnose-Methode ist die Biopsie, bei der Gewebe aus dem verdächtigen Körperbereich entnommen und danach mikroskopisch untersucht wird. Dabei werden die Bilder, die im Rahmen dieser sogenannten histophatologischen Diagnose entstehen, fast ausschließlich manuell ausgewertet. „Ein Facharzt für Pathologie beurteilt Veränderungen des untersuchten Gewebes und entscheidet, ob etwas als pathologisch oder als Normvariante einzuordnen ist“, erklärt Klauschen, der fünf Jahre an den National Institutes of Health in den USA forschte und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Lassen sich feinste Veränderungen an Zellen oder der Gewebearchitektur entdecken, kann das auf einen bösartigen Tumor hinweisen. Neben dieser qualitativen Einschätzung werde mittlerweile aber auch die quantitative Beurteilung von Gewebeeigenschaften immer wichtiger, ergänzt der Experte und gibt ein Beispiel: „die Quantifizierung gewisser durch Sonderfärbungen dargestellter Eiweiß-Marker oder die Anzahl von Immunzellen im Tumor.“ Genau hier liege die Herausforderung der modernen Medizin: „Pathologen können solche Eigenschaften ´zählen´, allerdings nur mit hohem Zeitaufwand oder sie schätzen dann entsprechend ungenau“, kennt Klauschen das Dilemma. Hier können KI-Verfahren zum Einsatz kommen. Werden die Maschinen entsprechend trainiert, können sie schneller und effizienter Gewebestrukturen und -veränderungen erkennen. Damit können sie die größten Herausforderungen meistern, vor der Mediziner heute stehen: Die immensen Datenmengen und die daraus resultierenden Analysezeiten. Statt Analysen im Vorfeld der Diagnostik über Nacht laufen zu lassen, ermöglichen Echtzeit-Methoden, die Analyse während der Befundung durchzuführen. „Im Wesentlichen soll die KI einen Effizienzvorteil bringen und die Präzision der Diagnostik erhöhen, also auch die Fehlerraten senken und damit die Patientensicherheit verbessern“, fasst der Pathologe die Vorteile zusammen.

Prof. Dr. Frederick Klauschen © Charité

Vielversprechende Forschungsergebnisse

Erste Ergebnisse der Forschungen im Bereich Künstlicher Intelligenz sind jedenfalls vielversprechend: So stellten Wissenschaftler der Eötvös Universität in Budapest im Jahre 2018 ein KI-basierendes Verfahren vor, das bei der Mammographie – die übliche Methode zum Erkennen von Brustkrebs – aus den Röntgenbildern der weiblichen Brust Brustkrebszellen mit etwa 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit erkennt. Besonderes Aufsehen erregte außerdem eine Studie von Holger Hänßle von der Universität Heidelberg zur frühzeitigen Identifizierung von Hautkrebs. Dabei werteten gleichzeitig eine Maschine und ein Team internationaler Dermatologen identische Bilder von Muttermalen und schwarzem Hautkrebs aus. Das Ergebnis war beachtlich: Während die Hautärzte im Durchschnitt 86,6 Prozent der bösartigen Melanome erkannten, identifizierte das KI-System sogar 95 Prozent richtig.

Auch an der Berliner Charité erforschen unterschiedliche Abteilungen und Arbeitsgruppen den Einsatz von Maschinellem Lernen. Eine davon ist die Klinik für Radiologie: „Quantitative Bildgebung, zu der auch die aktuellen Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz zählen, werden in der Radiologie schon seit vielen Jahren eingesetzt“, erklärt PD Dr. Tobias Penzkofer, Leiter der zuständigen Arbeitsgruppe. „Die etablierten Techniken basieren dabei meist auf der Analyse des Kontrastmittelverhaltens oder funktionellen quantitativen Parametern, wie zum Beispiel der Diffusionsbildgebung. Diese Techniken werden beispielweise in der Bildgebung für Leber-, Prostata- oder Hirntumordiagnostik eingesetzt.“ Allerdings konnten bisher meist nur einzelne Datenpunkte betrachtet werden, für die Betrachtung der großen Datenmengen fehlten die  Analysemöglichkeiten. „Mit der aktuellen Welle an neuen KI-basierten Technologien ändert sich dies grundlegend: wir haben nun die Möglichkeit, die entstehenden Bilddaten auf eine ganz neue Art und Weise zu analysieren“, freut sich Penzkofer. Algorithmen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz könnten etwa komplexe – einem menschlichen Gutachter nicht zugängliche – Systematiken in der Darstellung krankhafter Veränderungen im Körper finden. Bis auf einzelne Anwendungen im Bereich der Anatomieerkennung oder automatischen Markierung von pathologischen Veränderungen werden die Technologien allerdings noch nicht in der Praxis eingesetzt. „Diese neu entstandenen Methoden haben meist noch experimentellen Charakter“, gibt der Mediziner zu bedenken. Das gilt auch für ein aktuelles Forschungsprojekt zur nichtinvasiven Charakterisierung des Prostatakarzinoms, an dem die Radiologie mit den Kliniken für Urologie und dem Institut für Pathologie zusammenarbeitet. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz sollen dabei bösartige Tumore in der Prostata bereits in Bildern erkannt werden können. Das „hochgesteckte Ziel“ des vielversprechenden Projekts ist es, laut Penzkofer, den Patienten so den schmerzhaften, belastenden Eingriff einer Biopsie zu ersparen.

Dr. Tobias Penzkofer © Peter Johann Kierzkowski

Passende Therapien reduzieren Kosten fürs Gesundheitssystem

Unnötige Behandlungen zu vermeiden und im gleichen Zug Kosten fürs Gesundheitssystem zu reduzieren, ist auch das Ziel eines anderen Projekts an der Charité. Gemeinsam mit Partnern aus klinischen Studiengruppen und der Pharmaindustrie erarbeiten Prof. Dr. Klauschen und sein Team von der Pathologie derzeit Möglichkeiten, KI in der Medikamentenentwicklung einzusetzen. „Man kann zum Beispiel neue Biomarker (Anm.: messbare Parameter biologischer Prozesse, die prognostische oder diagnostische Aussagekraft haben und daher als Indikatoren etwa für Krankheiten herangezogen werden) suchen, um zu prognostizieren, bei welchen Patienten eine Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit anschlägt und bei welchen nicht“, erklärt der Pathologe. „Es kann einen statistisch signifikanten Unterschied machen, für die Bewertung eines Medikaments, ob in einer Studie eine bestimmte Eigenschaft in zum Beispiel fünf Prozent oder zehn Prozent der Tumorzellen nachweisbar ist. Mit dem bloßen Auge unter dem Mikroskop lässt sich das oftmals nicht so präzise quantifizieren.“ Die KI hingegen könne diese komplexen, prognostisch oder therapeutisch relevanten Eigenschaften aus dem Bild „herauslesen“.

Aignostics: Lüften der Black Box

Während man hier noch in der Anfangsphase steckt, kommen KI-Algorithmen, die im Rahmen des Projekts „Aignostics“ von Klauschens Team in Zusammenarbeit mit Klaus-Robert Müller von der TU Berlin entwickelt wurden, bereits im klinischen Alltag der Charité zum Einsatz: „Typischerweise arbeitet eine KI als ‚Black Box‘, das heißt, es sind keine Rückschlüsse möglich, warum die KI Gewebe beispielsweise als bösartigen Tumor einstuft“, beschreibt Prof. Dr. Klauschen den Vorteil von Aignostics, das vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) im Rahmen des „Digital Health Accelerators“ gefördert wird. „Das Besondere unserer Technologie ist, dass sie das Analyseergebnis mit „Heatmaps“ visualisiert, welche es den Pathologen ermöglichen, das Resultat der KI auf einen Blick zu verifizieren. Dieser Unterschied ist essenziell, weil der Pathologe die Verantwortung für die Diagnose trägt und der KI nicht blind vertrauen darf.“

Hohes Potenzial für Molekularpathologie

Zeigt Aignostics das Potenzial von KI bei der histopathologischen Bilddiagnostik, ein spezielles Verfahren zur mikroskopischen Krankheitsuntersuchung an Gewebeproben, wird Maschinelles Lernen derzeit auch in einem anderen Anwendungsfeld der Pathologie im klinischen Versuch auf Herz und Nieren getestet: in der Molekularpathologie. „Sie spielt in der pathologischen Diagnostik eine immer größere Rolle und untersucht vor allem genetische Veränderungen in Tumoren“, so Klauschen. „Während man bisher meist nur einzelne Gene untersucht hat, erlauben es neue Verfahren, die genetischen Fingerabdrücke von Tumoren immer umfassender zu vermessen.“ Gleichzeitig werde es aber immer schwieriger, diese komplexen Daten zu interpretieren. Auch hier können KI-Verfahren helfen, wie die Forscher der Charité, des Deutschen Krebskonsortiums und der TU Berlin kürzlich in einer Studie bewiesen haben: KI-Verfahren ermitteln anhand chemischer Veränderungen der DNA die Herkunft von entartetem Gewebe. Damit ist es gelungen, ein langjähriges Problem der Diagnostik bei Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren zu lösen. Denn bei einem Teil der 17.000 Deutschen, die pro Jahr an Kopf-Hals-Tumoren erkranken, entwickelt sich zusätzlich ein Lungentumor: „Hier lässt sich in den allermeisten Fällen nicht sicher entscheiden, ob es sich um eine Streuung – eine sogenannte Metastase – des Kopf-Hals-Tumors handelt oder um einen zweiten Tumor, also ein Lungenkarzinom“, erklärt Klauschen, der zusammen mit Prof. Dr. David Capper vom Institut für Neuropathologie der Charité die Studie geleitet hat, gegenüber analytica-world.com, „für die Therapie der Betroffenen hat diese Unterscheidung jedoch große Bedeutung. Während lokal begrenzte Lungenkarzinome mittels einer Operation potenziell geheilt werden können, haben Patienten mit einem metastasierten Kopf-Hals-Tumor eine deutlich schlechtere Überlebenschance und benötigen beispielsweise eine Radiochemotherapie.“ Normalerweise greifen Pathologen zur Unterscheidung auf die Analyse der Feinstruktur des Tumors sowie den Nachweis charakteristischer Eiweiße im Gewebe zurück. Diese Untersuchungen liefern aber in einem Großteil der Fälle kein eindeutiges Ergebnis. Größeren Erfolg zeigte hingegen die Analyse der Gewebeproben hinsichtlich chemischer Veränderungen der DNA, der sogenannten Methylierung. Anhand von Methylierungsdaten mehrerer hundert Kopf-Hals- und Lungentumore trainierten die Forscher ein tiefes neuronales Netzwerk, diese Tumorarten zu unterscheiden. „Unser neuronales Netzwerk ist nun in der Lage, Lungenkarzinome und Metastasen von Kopf-Hals-Tumoren in den meisten Fällen mit einer Genauigkeit von über 99 Prozent zu unterscheiden“, unterstreicht Prof. Dr. Klauschen. „Solche KI-Einsatzgebiete sind meines Erachtens aber erst der Anfang“, fügt er hinzu. „Wir werden hier an der Schnittstelle von histologischer und molekularer Pathologie verstärkt weiter forschen.“

Vom Versuch in den klinischen Alltag

Bis sowohl die Algorithmen von Aignostics als auch dieses Verfahren der Molekularpathologie in der Routinediagnostik zum Einsatz kommen, müssen noch einige Hürden überwunden werden. So müssen die Lösungen etwa eine CE-Zertifizierung erhalten – Neuland im Bereich des Maschinellen Lernens. Kernvoraussetzung für die Umsetzung sei seiner Meinung nach vor allem die Bereitschaft der Institutionen, die mit der Digitalisierung verbundenen signifikanten Investitionen zu tätigen, erklärt Klauschen. Darüber hinaus brauche es Regeln zum Datenschutz und einen einheitlichen Ansatz, um die Qualität von KI-Algorithmen aus regulatorischer Sicht zu prüfen. „Ich bin an einer Initiative der Standardisierungorganisation ITU der Vereinten Nationen in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation WHO beteiligt, um Standards dafür zu entwickeln, KI-Verfahren für den medizinischen Einsatz zu validieren und wir müssen klären, inwieweit wir Patientendaten zum Training von KI-Verfahren auch in Zusammenarbeit mit Firmen nutzen dürfen.“ Es sind schwierige Themen, über die sich auch die unterschiedlichen Institute an der Charité, die sich mit den Bereichen Bildgebung und KI beschäftigen, regelmäßig austauschen. Genauso, wie über eine andere, wichtige Voraussetzung der erfolgreichen Implementierung von KI: „Nicht zuletzt muss sich die Lösung effektiv in den Arbeitsablauf und die Systemlandschaft des jeweiligen Instituts einbetten“, weiß Prof. Dr. Klauschen, der außerdem den Forschungsbereich Systempathologie an der Charité leitet. „Das erfordert natürlich eine Reihe von Schnittstellen, die wir noch entwickeln.“

Einigkeit herrscht unter den Experten aller Disziplinen der Universitätsklinik jedenfalls in einem: So groß das Potenzial der Künstlichen Intelligenz ist, die Arbeit der Mediziner wird sie nicht übernehmen. „Aktuelle Ergebnisse lassen vermuten, dass das größte Potential zunächst in der „unterstützenden KI“ für den Radiologen liegt“, meint etwa Dr. Penzkofer. „Dabei werden wiederkehrende, fehleranfällige Aufgaben an die KI delegiert und somit die Befundqualität verbessert. Auch die Qualitätskontrolle und Planung von Untersuchungen fällt unter diese Aufgaben, weil hier die Stärken der nichtermüdenden Algorithmen ausgespielt werden kann.“ Außerdem könne KI uninteressante, arbeitsintensive Aufgaben wie die Metastasen-Suche in Lymphknoten erleichtern, bestätigt sein Kollege von der Pathologie. „Die Pathologen werden dadurch nicht überflüssig, sondern KI wird zur Unterstützung in der Diagnostik eingesetzt werden, um steigende Fallzahlen und Komplexität zu bewältigen. Wie bei jedem neuen diagnostischen Verfahren, braucht man erfahrene Experten, um die Testergebnisse im klinischen Kontext zu interpretieren“, ist Prof. Dr. Klauschen überzeugt: „Künstliche Intelligenz wird uns erlauben, dass wir uns auf wichtigere Dinge konzentrieren können, als auf das, was der Computer besser kann.“