Wenn alte Menschen stürzen, hat das häufig dramatische gesundheitliche Konsequenzen für sie. Mit Sicherheit wären viele Fälle vermeidbar. Mit ihrem 2017 gegründeten Unternehmen Lindera möchte die ehemalige Microsoft-Managerin Diana Heinrichs Abhilfe schaffen: ihre KI-gestützte Bewegungsanalyse-App ähnelt einer klinischen Analyse aus dem Ganglabor. Wie die medizinische Welt von morgen aussieht und warum Zulassungen für digitale Pflegeanwendungen in Frankreich bereits zum Standard gehören, hat die CEO mit #ki_berlin besprochen.
Hand aufs Herz: Haben Sie Menschen kennengelernt, die Ihre Produkte nutzen? Waren Sie stolz?
Ja! Seit der Gründung von Lindera durfte ich bereits vielen Menschen begegnen, deren Alltag sich durch unsere Technologie nachhaltig verändert hat. Dazu gehören Pflegekräfte, die mir berichten, dass sie nun deutlich mehr Zeit für die Betreuung und den gezielten Mobilitätserhalt der Senior*innen haben. Ebenso gehören dazu ältere Menschen, die sich dank der Sturzprophylaxe ein großes Stück Lebensqualität bewahren konnten. Solche Rückmeldungen zum eigenen Produkt zu erhalten, macht mich natürlich stolz. Zumal ich selbst in meiner Familie erlebt habe, welche Einschränkungen das Alter mit sich bringt und was es heißt, Fachkräfte zu einem längeren Verbleib in ihrem Berufsbild zu verhelfen. Diese Erfahrung war als Antrieb immer sehr wichtig für mich und letztlich auch einer der Gründe dafür, dass es Lindera heute gibt.
Wo sehen Sie das größte Potenzial für Ihre Sturzpräventions-App? Und was für eine Rolle spielt KI dabei?
Die Lindera SturzApp hat das Potenzial, ein Kernproblem unserer immer älter werdenden Gesellschaft zu lösen. Stürze sind die häufigste Ursache für Verletzungen und stellen ein gravierendes gesundheitliches und gesellschaftliches Problem dar. In der Altersgruppe der über 65-Jährigen stürzt etwa jeder Dritte einmal im Jahr. Viele dieser älteren Menschen erlangen ihre frühere Beweglichkeit nur schwer oder gar nicht mehr zurück. Gleichzeitig belasten Stürze nicht nur die Betroffenen und ihre Familien, sondern auch das Gesundheitssystem. Stürze im Alter verursachen Kosten in Milliardenhöhe und lassen sich nicht einfach durch eine Impfung oder eine Tablette kurieren. Unsere SturzApp reduziert nachweislich das Sturzrisiko älterer und in ihrer Mobilität eingeschränkter Menschen. Sie entlastet außerdem Pflegekräfte in ihrer täglichen Arbeit.
Um das Sturzrisiko per Smartphone-Kamera und App – und übrigens ganz ohne zusätzliche Hardware oder spezielle Sensoren – zu analysieren, arbeiten wir mit Künstlicher Intelligenz: Unser patentierter 3D-Algorithmus erfasst Bewegungsparameter millimetergenau, überführt diese anschließend in ein präzises, digitales 3D-Bild und ermittelt den Sturzwahrscheinlichkeitsgrad der Person. Neben der detaillierten Ganganalyse liefert unsere SturzApp einen auf die individuellen Bedürfnisse der Senior*innen zugeschnittenen Maßnahmenkatalog zur Sturzprophylaxe.
Wie sieht die aktuelle Lindera-Produktpalette aus?
Unsere Produktpalette wächst und wächst. Im vergangenen Jahr haben wir mit Partnern wie DAN Produkte, Medifox oder auch myneva.heimbas die Integration unserer Lösung in die stationären Pflegeprozesse vorangetrieben. Mittlerweile reicht unser Angebot schon weit darüber hinaus. Unsere KI ist das Schweizer Taschenmesser der Bewegungsanalyse – und die lässt sich in Pflegeheimen ebenso zum Einsatz bringen, wie in Kliniken oder in Reha-Einrichtungen. Als Software Development Kit stellen wir unsere 3D-Technologie beispielsweise auch den Entwickler*innen von Fitness-Apps bereit. Ein Beispiel dafür ist Anwendung Skill Yoga, die auf unserer KI aufbaut.
Ist es bei all den Entwicklungen im e-Health-Bereich förderlich, dass mit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) und der Entscheidung für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) im Rahmen der Regelversorgung Prozesse seitens des Gesundheitsministeriums beschleunigt werden?
Eine Beschleunigung ist sogar dringend notwendig. Die WHO warnt lautstark und faktenbasiert vor dem Fachkräftemangel in der EU. Wir wollen aus Deutschland und Europa heraus Innovationen entwickeln, um eine zeitgemäße wie patientenfreundliche Gesundheitsversorgung flächendeckend verfügbar und das Berufsbild der Pflege wieder attraktiver zu machen. Das gelingt nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und notwendige Strukturen und Voraussetzungen geschaffen werden. Doch gerade beim Zulassungsprozess hakt es. Bereits im Januar hatte beispielsweise der Gesundheitsminister zum DiPA-Kabinettsbeschluss mit einer App geworben, die Stürze verhindert. Tatsächlich ziehen sich die Zulassungen für Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) bis heute. Es ist zäh. Von Dynamik ist nicht viel zu spüren. Auch sind Bewohner*innen wie Fachkräfte in stationären Pflegeheimen von der DiPA explizit ausgeschlossen. Das blockiert neue Arbeitsweisen in Pflegeheimen, um den eklatanten Fachkräftemangel abzufedern und ein neues Teamwork zu etablieren. In meiner Zeit bei Microsoft habe ich mich für den Modern Workplace im Büro eingesetzt, weg von der Stechuhr, hin zu einem intelligenten Teamwork. Diesen Wandel brauchen wir auch in der Pflege – statt kurzfristiger Leiharbeiter und extensiver, manueller Dokumentation.
Inwiefern kommen Ihnen dabei die demografischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte entgegen – eher Herausforderung oder Segen?
Der demografische Wandel und die zunehmend alternde Gesellschaft sind ein wesentlicher Antrieb für unsere Arbeit bei Lindera. Unsere Kernmotivation ist es, die individuelle körperliche Mobilität von Menschen mit Künstlicher Intelligenz zu fördern und Stürzen vorzubeugen. Gleichzeitig wollen wir Mobilität im Alter neu denken: Wir wollen eine präventionsorientierte Gesundheitsversorgung vorantreiben, die es möglichst vielen Menschen ermöglicht, ihre Beweglichkeit und Mobilität zu erhalten, und zwar in jeder Phase ihres Lebens. Denn wie Amazon festgestellt hat, dass das Unternehmen nicht nur digitale Bücher vertreiben kann, haben wir gesehen, dass unsere 3D-Technologie nicht nur im Alter Stürze verhindert, sondern Bewegung in jeder Lebensphase gezielt fördert.
Nicht nur die deutsche Gesellschaft ist eine alternde, auch in anderen Staaten altert die Bevölkerung stärker. Inwieweit reicht Ihr bzw. Linderas Blick über den „nationalen Tellerrand”?
Mit unserer Technologie wollen wir weltweite Standards im Bereich der medizinischen Bewegungsanalyse setzen. In Frankreich nutzt bereits der größte Anbieter für private Pflege unsere Lösung. Grundsätzlich gilt: Die Herausforderungen sind in vielen Ländern ähnlich, nur die Voraussetzungen sind oft unterschiedlich – also die nationalen Vorgaben im Gesundheitsbereich, die Zulassungsprozesse und die Finanzierungswege. Das sehen wir zwar als Herausforderung, aber keineswegs als ein Hindernis. Zumal wir starke Partner haben, die international aktiv sind. Der europäische Pflege- und Betreuungsdienstleister KORIAN, einer unserer größten Kunden, betreibt westlich von Paris beispielsweise das Seniorenheim Castel Voltaire. In Frankreich gilt diese Einrichtung als Musterbeispiel für die Integration von technologischen Lösungen in Pflegeheimen. Das schafft gute Voraussetzungen, damit auch andere Health-Tech-Unternehmen mit ihren Produkten im Ausland überzeugen können.
Sicherlich setzen Sie sich intensiv mit Mediziner*innen unterschiedlichster Fachrichtungen auseinander. Stoßen Sie eher auf Wohlwollen oder Ablehnung im Bereich e-Health in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz?
Wir erfahren Zuspruch und arbeiten mit Mediziner*innen unterschiedlichster Fachrichtungen zusammen: Unsere Technologie haben wir aus der Praxis heraus entwickelt und bei der Entwicklung von Beginn an mit der Forschungsgruppe Geriatrie der Berliner Charité, Psychologinnen und Psychologen sowie examinierten Pflegefachkräften zusammengearbeitet. Allgemein ist das Potenzial von KI in der Medizin und Pflege riesig. Das wissen auch die Mediziner*innen. Dabei übernimmt KI nicht nur administrative und organisatorische Aufgaben, sondern unterstützt schon längst auch bei Prävention, Diagnose und Therapie. Der Nutzen und die Vorteile von KI liegen auf der Hand und reichen von präziseren Diagnosen und individuelleren Therapiemöglichkeiten, über die Entlastung des Pflegepersonals, bis hin zu nachhaltigen Kostensenkungen.
Sie dürfen ganz kühn sein: Wie sieht Ihrer Meinung nach die Medizin von morgen aus? Gibt es noch menschliche Ärzt*innen? Wie begegnen Sie Menschen, die vor KI im Gesundheitswesen Furcht haben?
Zu den großen Missverständnissen gehört, dass KI medizinische Fachkräfte – ob nun Ärzt*innen oder Pflegepersonal – ersetzen soll oder ersetzen kann. Das Gegenteil ist richtig. Der Einsatz von KI hilft dabei, den Menschen in den Fokus zu rücken und gibt medizinischen Fachkräften mehr Raum für zwischenmenschliche Zuwendung. Meine Zukunftsvision für die Medizin und Pflege von morgen ist eine individualisierte, patientenzentrierte und präventionsorientierte Gesundheitsversorgung. Bisher gehen wir nur dann zur Ärztin oder zum Arzt, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Zwar haben wir in den letzten Jahren damit begonnen, unsere Schritte zu zählen, unseren Puls eigenständig zu messen oder unsere Sportaktivitäten per App aufzuzeichnen – doch das sind alles nur Puzzleteile auf dem Weg zu einer nachhaltigen, digitalen Gesundheitsvorsorge. In Zukunft sind wir mit einem persönlichen 3D-Avatar im Smartphone ausgestattet, der uns fortlaufend über unseren Gesundheitszustand informiert und uns in Echtzeit mit Handlungsempfehlungen unterstützt.
Und was ist Ihre Meinung über das Startup-Gefüge im medizinischen Bereich in Berlin – immerhin gibt es hier mit der Charité einen bedeutenden internationalen Campus?
Die Nähe zu Einrichtungen mit internationaler Strahlkraft wie der Charité in Berlin bringt für innovative Health-Unternehmen viele Vorteile mit sich. So haben wir bei Lindera selbst in verschiedenster Weise mit Forscher*innen und Mediziner*innen des Universitätsklinikums zusammengearbeitet und werden das auch in Zukunft tun. Beispielsweise haben Dr. Anika Heimann-Steinert und Oskar Stamm von der Forschungsgruppe Geriatrie die hohe Präzision unserer KI wissenschaftlich ausgewertet und bestätigt. Insgesamt bietet Berlin bereits ein sehr breites Portfolio an Forschungszentren, Kliniken, IT-Unternehmen, Leistungserbringern und etablierte Netzwerke, die stetig weiterwachsen und um die sich immer mehr Health-Startups ansiedeln. Dennoch ist die Startup-Szene im medizinischen Bereich nach meiner Beobachtung keineswegs so stark in Berlin konzentriert, wie wir das vielleicht aus anderen Segmenten kennen.