Alle 100 Sekunden erkrankt in Deutschland ein Mensch an Demenz. Die meisten sind von einer Alzheimer-Erkrankung betroffen. Rund 1,7 Millionen Deutsche leben gegenwärtig mit dem „Volksleiden“. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl, nach aktuellen Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung in einer alternden Gesellschaft auf drei Millionen steigen. Der erschreckende Aufwärtstrend zeigt sich auch in anderen Störungen des zentralen Nervensystems wie Parkinson, Schlaganfall, Epilepsie, Depressionen, Angststörungen oder Multiple Sklerose. Schon heute sind neurologische Krankheiten in Europa Ursache Nummer eins für Behinderungen und Ursache Nummer zwei für Todesfälle, verweist die European Acadamy of Neurology (EAN) auf die wachsende Bedrohung. Eben dieser Herr zu werden, ist trotz hohem Forschungseinsatz und vielversprechenden Innovationen, in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen: Es fehlt nicht nur am Verstehen der genauen Mechanismen, auch eine frühe Diagnose der neurodegenerativen Krankheiten ist meist nicht möglich – von einer Therapie ganz zu schweigen.
Was der Neurologie bisher nicht geglückt ist, daran arbeiten an der Berliner Charité gleich mehrere Arbeitsgruppen und setzen dabei auf Methoden der Künstlichen Intelligenz, um hinter die Geheimnisse des menschlichen Gehirns und dort auftretender Störungen zu kommen. Im Zentrum steht dabei die Neurobildgebung (Neuroimaging). Der Ansatz, das zentrale Nervensystem, insbesondere das Gehirn, zum besseren Verstehen als 2- oder 3-dimensionales Bild darzustellen, ist dabei nicht neu. Im Gegenteil: Seit den 70er Jahren werden solche Aufnahmen von Ärzten hergenommen, um zu entscheiden, welche Krankheit ein neuer Patient hat. Dabei kommt vorwiegend die Methode der Magnetresonanztomographie (MRT) zum Einsatz. „Je nach Sequenz können mit dem MRT unterschiedliche Eigenschaften des Gehirns dargestellt werden“, erklärt Prof. Dr. rer. nat. Kerstin Ritter, Juniorprofessorin für Computational Neuroscience und Leiterin der AG „Maschinelles Lernen in der klinischen Neurobildgebung“ an der Berliner Charité deren Prinzip. „So werden zum Beispiel stoffwechselbedingte Eigenschaften wie die Konzentration von Metaboliten oder funktionelle Eigenschaften wie die Gehirnaktivität in Ruhephasen oder während der Durchführung mentaler Aufgaben sichtbar.“ Angezeigt werden aber auch morphologische Eigenschaften wie Gewebsverlust oder Entzündungsherde. Eben diese können Anzeichen für neurologische Erkrankungen sein.
Prof. Dr. Kerstin Ritter © Charité Berlin
Wenn subtile Veränderungen sichtbar werden...
Nicht immer ist die Sache aber so eindeutig. „Während neurologische Erkrankungen mehr oder weniger klare morphologische Veränderungen aufweisen, sind die Veränderungen bei psychischen Erkrankungen weitaus subtiler“, erläutert Ritter, denn „teilweise sind sie auch nur im funktionellen Bereich zu finden.“ Dementsprechend schwierig ist es für Ärzte, depressive Phasen oder andere psychische Störungen frühzeitig zu erkennen und eindeutig zu diagnostizieren. Notwendig wäre es, schließlich sind Depression oder Angststörung längst ein Massenphänomen: Laut Weltgesundheitsorganisation leidet jede dritte Person mindestens einmal in ihrem Leben an einer solchen Krankheit. Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung.
Hier kommen maschinelle Lernverfahren ins Spiel: „Sie sind mächtige Instrumente, um selbst die kleinsten Veränderungen im Gehirn frühzeitig wahrzunehmen“, weiß die Expertin aus eigenen Untersuchungen. Nach Studien zu Depression sind Folgeprojekte im Bereich Sucht und Schizophrenie geplant, so Ritter. Zusätzlich versucht das Team in einem weiteren Projekt, durch Maschinelles Lernen Indiktoren für mentale Gesundheit herauszufiltern. Dafür analysiert es mithilfe Künstlicher Intelligenz 15.000 MRT-Bilder aus der UK-Biobank, eine weltweit anerkannte Datenbank für schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankungen.
Entscheidungsfaktor Daten
Es ist ein guter Anfang. Doch: „Um das volle Potential von maschinellen Lernverfahren auszuschöpfen, benötigen wir große Datensätze, die die verschiedenen Erkrankungen in all ihrer Komplexität abbilden und die es erlauben, krankheitsbedingte Abweichungen zu lernen“, erklärt die Mathematikerin und weiß die Vorteile der Charité zu schätzen. Das große medizinische Zentrum im Herzen Berlins bietet der Forschung eine herausragende Verfügbarkeit von eigenen Bilddaten mit hoher Qualität, wobei Deep-Learning-Verfahren besonders erfolgreich sind. Bei diesen sogenannten Convolutional Neural Networks (CNN) handelt es sich um tiefe neuronale Netzwerke, die in der Lage sind, Daten hierarchisch zu zerlegen und komplexe Beziehungen zu lernen. „Zum Beispiel können diese Netzwerke dafür eingesetzt werden Entzündungsherde bei Multipler Sklerose zu detektieren“, fügt Ritter hinzu, „oder eine bildbasierte Differentialdiagnostik zwischen verschiedenen Formen von Demenz zu machen.“
Auch in der Arbeitsgruppe Maschinelles Lernen – eine von sieben des Forschungsbereichs Bildgebung und Neurotechnologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Charité) – kommen Convolutional Neural Networks zum Einsatz. So hat das Team von Kerstin Ritter ein transparentes Deep-Learning-Verfahren entwickelt, das anhand von MRT-Bildern nicht nur die Diagnose neurologischer Erkrankungen ermöglicht, sondern außerdem im Nachhinein erklärbar macht, warum der Algorithmus zu dieser Diagnose gekommen ist. „Dabei haben wir unterschiedliche Visualisierungsmethoden miteinander verglichen und bezüglich verschiedener Metriken quantifiziert“, berichtet die Rahel-Hirsch-Stipendiatin und Rezipientin des „NARSAD Young Investigator Grant“ von der „Brain & Behavior Research Foundation“, „derzeit schauen wir uns an, ob wir anhand der Erklärungen Subgruppen identifizieren können, und inwieweit diese Erklärungen mit morphologischen Veränderungen, zum Beispiel Hippocampus-Atrophie bei der Alzheimer-Krankheit (Anm.: eine Veränderung des Hippocampus kann ein Hinweis auf die Erkrankung sein), korrelieren.“
Entwickelt und eingesetzt für die Untersuchung von Alzheimer wurde das Verfahren mittlerweile auch bei Multiple Sklerose (MS) angewandt. „Hier haben wir gezeigt, dass CNN-Modelle vortrainiert auf Alzheimer-Daten sehr gut auf Daten von Patienten mit MS angepasst werden können“, so Ritter, die ihr Wissen im nächsten Semester im Wahlpflichtmodul „Künstliche Intelligenz der Medizin“ im Studiengang Medizin an der Charité weitergeben möchte, „und dass sie nicht nur Entzündungsherde in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen, sondern auch die Lokalisation der Entzündungsherde und unauffällige Hirnareale.“ Unterstützt durch eine Forschungsförderung der „Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG)“ wird sich die AG im nächsten Schritt mit der Differentialdiagnostik von MS sowie der Vorhersage von Krankheitsaktivität bei individuellen Patienten auseinandersetzen.
MRT 4.0
Bei der Beschäftigung mit der autoimmunen neurologischen Erkrankung MS, bei der das Immunsystem das Gehirn angreift, macht sich das Team von Kerstin Ritter ihre Integration in die Charité zunutze. Die Daten zu den bisherigen wie den geplanten Forschungsprojekten stammen nämlich aus dem eigenen Haus: Aus dem „Translational Neuroimaging Laboratory“ der AG Klinische Neuroimmunologie. Dieses erforscht neue und verbesserte Bildgebungsverfahren, um die Verlaufsbeobachtung der MS-Erkrankung und so die Behandlung des individuellen Patienten zu verbessern. „Ein wichtiges Krankheitselement der Multiplen Sklerose sind Läsionen (Anm.: Verletzungen, Störungen) im Gehirn, diese können wir mittels Magnetresonanztomographie erkennen“, nennt Prof. Dr. med. Alexander U. Brandt, Leiter der AG, ein Beispiel, das das Potenzial von Maschinellem Lernen zeigt, „aber Patienten können in Einzelfällen hunderte dieser Läsionen haben, die sich dreidimensional über das Gehirn verteilen. Wir wissen, dass die Messung von Anzahl, Lokalisation und Größe dieser Läsionen uns wichtige Informationen über Diagnose, Prognose und Verlauf der Erkrankung geben kann. Aber diese Läsionen manuell zu vermessen, ist zeitlich einfach nicht mehr möglich und sicher nicht praktikabel in der Klinik. Mittels Künstlicher Intelligenz können wir diesen Prozess automatisieren und die wertvollen Ergebnisse dieser sonst sehr aufwendigen Arbeit damit in den Klinikalltag integrieren.“
Prof. Dr. Alexander Brandt © Charité Berlin
Um eine solche Diagnose künftig besser zu gewährleisten, hat sich die Untersuchung der Netzhaut des Auges als hilfreich herauskristallisiert. „Die Netzhaut ist Teil des zentralen Nervensystems und ist damit auch bei neurologischen Erkrankungen verändert“, liegt für Brandt der Grund dafür auf der Hand, „aber anders, als das Gehirn, können wir die Netzhaut durch das Auge aufnehmen und damit hochauflösende optische Verfahren, wie etwa die optische Kohärenztomographie (OCT), verwenden. Damit erreichen wir eine Auflösung, die zirka um den Faktor 1000 besser ist, als das MRT. Das reicht, um kleine Zellverbünde und in Zukunft vielleicht sogar einzelne Zellen darstellen zu können.“ Erste Erfolge sprechen für sich: So konnte im letzten Jahr bewiesen werden, dass mit der Netzhautaufnahme mittels OCT der weitere Krankheitsverlauf bei neu diagnostizierten Patienten mit MS besser vorherzusagen ist, als die bisher eingesetzte MRT-Untersuchung. „Wichtig zu betonen ist, dass unsere aktuellen Ergebnisse unter optimalen Bedingungen eingesetzt werden“, gibt Brandt allerdings zu bedenken, „was wir und andere tun müssen, ist sicherzustellen, dass wir gute Ergebnisse auch unter tatsächlichen Bedingungen bekommen. Was ist bei unterschiedlichen Geräten? Was ist bei schlechter Bildqualität? Sind unsere Ergebnisse übertragbar in andere Regionen, nach Asien, Afrika?“
Antworten auf diese Fragen kann nur der Test in der Praxis liefern, ist der Mediziner und Neurowissenschafter überzeugt. „Besonders wichtig ist uns deshalb, dass wir aussichtsreiche Forschungsergebnisse konsequent nachfolgen und wünschenswerter Weise bis zur klinischen Anwendung bringen“, erklärt Brandt, denn „für uns bedeutet das zum Beispiel, dass wir Doktoranden und Wissenschaftler, die an einem Verfahren arbeiten, ermutigen, die Ergebnisse in einer Unternehmensgründung weiterzuverfolgen und bis zur Marktreife und darüber hinaus zu bringen.“
Mit den beiden Berliner Startups „Motognosis GmbH“ und „Nocturne GmbH“ ist dieser Plan bereits zweimal erfolgreich aufgegangen: Während Ersteres schon 2014 gegründet wurde und handelsübliche 3D-Gamingkameras dafür nutzt, um neurologische Bewegungsstörungen zu messen, ist Nocturne erst seit Kurzem auf dem Markt. „Wir haben im Labor analytische Verfahren zur Vermessung von Landmarken der Netzhaut, dem Sehnervenkopf und der Macula, entwickelt und konnten zeigen, dass diese Verfahren funktionieren und bei einigen Erkrankungen wichtige Informationen liefern können“, erzählt Brandt von der Entstehung, die der von Motognosis ähnelt, „die Nocturne GmbH hat sich dann aus dem Labor ausgegründet, und die beiden damaligen Doktoranden, die mit der Entwicklung und Erforschung der Verfahren beschäftigt waren, versuchen nun, die Verfahren und darauf aufbauende Systeme für die klinische Anwendung marktreif weiterzuentwickeln.“
Motognosis hat bereits die QM- (Anm.: Qualitätsmanagement) und MPG- (Anm.: Medizinproduktegesetz) Zertifizierung abgeschlossen und wird derzeit in Installationen in Deutschland, Israel, Italien, Japan sowie den USA eingesetzt. Bei Nocturne soll es 2020 soweit sein. Dann wird sich herausstellen, ob die Methode der Netzhautdiagnostik tatsächlich hält, was das Unternehmen schon heute verspricht: Dass durch Künstliche Intelligenz das Fenster zum Gehirn geöffnet wird – zumindest ein Stück weiter, als bisher.