Mann zeigt Frau auf Tablet ein Röntgenbild ihrer Zähnen

27 Januar 2022

Künstliche Intelligenz unterstützt Zahnärzt*innen im Analyse-Prozess von Röntgenbildern.

Ob zur Prävention künftiger Pandemien oder bei der Organ-Transplantation: Dass mit Hilfe der Digitalisierung maßgebliche Fortschritte in der Medizin erreicht werden, darüber sind sich Deutschlands Ärzt*innen einig. Vor allem Klinik-Ärzt*innen sehen in der Digitalisierung primär Chancen für das Gesundheitssystem: 86 Prozent betonen die Möglichkeiten, bei den Praxis-Ärzt*innen sind es immerhin 53 Prozent. Das ergab eine Umfrage, die der Digitalverband Bitkom im November 2020 gemeinsam mit dem Ärzteverband Hartmannbund unter mehr als 500 Ärzt*innen in Deutschland durchgeführt hat. „Insbesondere die Zahnmedizin ist geprägt von einer hohen Technikaffinität und zeichnet sich als Vorreiter der Digitalisierung im Gesundheitswesen aus“, weiß Felix Goldschmid, CEO von dentalXrai, aus der Praxis. „Die Behandlungsplanung und Durchführung erfolgen heute oft schon computerunterstützt. Neue digitale Anwendungen wie 3D-Diagnostik, 3D-Drucker und Intraoralscanner haben das Bild der Zahnmedizin in den letzten Jahren entscheidend geprägt. Viele der Innovationen werden heute schon als selbstverständlich angesehen.“ Auch das Produkt seines Startups dentalXr.ai (Anm.: X-ray – Röntgen; AI – Artificial Intelligence) ist auf einem guten Weg dahin; schließlich entlaste die Software den Zahnarzt und die Zahnärztin und erlaube es, wieder mehr Zeit dem/der Patient*in zu widmen.

Möglich macht das ein ausgeklügeltes System, das auf KI, insbesondere auf Maschinelles Lernen, setzt. DentalXrai hat neuronale Netzwerke mit vielen tausenden dentalen Röntgenbildern trainiert und somit gelernt, eigenständig Vorversorgungen wie Füllungen, Kronen und Implantate sowie Pathologien wie Karies, parodontaler Knochenabbau und apikale Läsionen auf Röntgenbildern zu erkennen“, erklärt Goldschmid, der im Oktober 2020 von CEO und Co-Gründer Hans-Peter Karpenstein die Rolle als Geschäftsführer übernommen hat. „Die so entstandene Künstliche Intelligenz ist nun in der Lage, Zahnärzt*innen bei der Befundung zu assistieren, indem die Software ein digitales Abbild als Zahnschema des/der Patient*in erstellt, einen strukturierten Befund erzeugt und die entsprechenden Detektionen farblich auf dem Röntgenbild hervorhebt.“ Im Anschluss wird der Befund in einer eigenen Software abgelegt. „Das Tolle für die Patient*innen ist dabei, dass die farblichen Visualisierungen der Detektionen dazu führen, dass auch Laien nachvollziehen können, wie sich der eigene Gesundheitszustand darstellt“, nennt er weitere Vorteile.

KI findet dreimal mehr Karies

Dass diese „digitale Zweitmeinung“ sicher und sogar zuverlässiger als eine durch den Menschen erstellte Diagnose ist, soll eine Studie gezeigt haben. „Die Sensitivität, also der Anteil der aufgefundenen Karies, steigt unter Einsatz unserer KI – und zwar signifikant“, bezieht sich der dentalXrai-CEO auf Ergebnisse daraus, „teilweise haben wir gerade bei der frühen Karies dreimal mehr Karies gefunden, wenn KI angewendet wurde. Dies ist bedeutsam, weil die Frühkariesdetektion der erste Schritt zur frühen, weniger invasiven Therapie ist: KI hilft, Karies rechtzeitig zu finden und schmerzfrei zu therapieren. Dies hat auch Relevanz für Kostenträger.“ Hauptgrund für die Zuverlässigkeit der Software sei das intensive Training, welches das inzwischen 41-köpfige dentalXrai-Team aus Mediziner*innen, Datenwissenschaftler*innen und Softwareentwickler*innen durchführt. Die zugrundeliegenden Modelle wurden und werden mit Hilfe eines immens großen zahnmedizinischen Datensatzes optimiert. Wir haben dafür auf Röntgenbilder der Charité und zahnmedizinischer Kooperationspartner in der ganzen Welt zurückgegriffen. Auf diesen Röntgenbildern wurden zuvor von Zahnärzt*innen pathologische Veränderungen oder Spuren früherer Behandlungen markiert“, meint Prof. Dr. Falk Schwendicke, Leiter der Abteilung Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Mitgründer von dentalXrai in einem Interview auf Braincity Berlin. Mindestens 5.000 Bilder müssen für jede Detektion verarbeitet werden, um einen ersten, robusten Algorithmus zu erstellen, ergänzt CEO Goldschmid. „Aus dem Datenpool identifiziert die von uns gefütterte Software statistische Muster“, so Schwendicke, der in der von der WHO und ITU organisierten „Focus Group on Artificial Intelligence for Health" tätig ist. „Ganz wichtig ist: Unsere Software übernimmt nicht die Verantwortung für die Zahnuntersuchung und entscheidet auch nicht über Therapien“, betont er, „aber sie beschleunigt die Analyse von Röntgenbildern enorm und hebt sie auf ein hochwertiges, standardisiertes Niveau.“

Felix Goldschmid © dentalXrai

Fokus auf Geschwindigkeit

Karies, Infektionen, aber auch Implantate und Wurzelfüllungen erkennt die Software innerhalb von nur fünf Sekunden, nur für komplexere Daten kann es schon einmal doppelt so lange dauern. Für den Nutzenden beides Zeiten, die kaum wahrzunehmen seien, so Goldschmid. „Geschwindigkeit war ein großer Fokus für uns – von Anfang an“, fügt er hinzu. Es sind nämlich gerade das Betrachten und Auswerten von Röntgenbildern, die in Zahnarzt-Praxen viel Zeit in Anspruch nehmen und Zahnärzt*innen auf die Geduldsprobe stellen. Von Patient*innen ganz zu schweigen. Seit 2017 widmete sich deshalb ein Team der Berliner Charité der Frage, wie Maschinelles Lernen hier eine Erleichterung bringen könnte. „Die Idee stammt ursprünglich aus anderen medizinischen Feldern. Ich hatte Veröffentlichungen u. a. über die Erfolge des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz auf dem Gebiet der Melanom-Klassifikation gelesen und dachte mir: Wie kann man KI in der Zahnmedizin sinnvoll einsetzen?“, erklärt Schwendicke, der als Mitglied der World Dental Federation über ein außerordentliches Netzwerk verfügt. Gemeinsam mit seinen Kollegen, dem Mund-Kiefer-Gesichtschirurg Dr. med. Robert André Gaudin und dem Geowissenschaftler Dr. Joachim Krois, der an der Charité – Universitätsmedizin Berlin als Datenexperte arbeitete und sich mit Deep Learning sowie KI beschäftigte, brachte er einen Piloten auf den Weg. Kurz darauf bewarb sich das Team um die Förderung über den BIH Digital Health Accelerator (DHA), dem gemeinsamen Technologietransfer-Programm des Berlin Institute of Health und der Charité. Zwei Jahre lang wurde das Projekt durch Fördermittel, Co-Working Spaces und die erfahrenen Berater*innen des Programms unterstützt. 2020 war es dann endlich soweit: Das Unternehmen dentalXrai war gegründet – das erste Startup der Charité aus dem zahnmedizinischen Bereich.

Launch mit siebenstelligem Umsatz

Seit Februar 2021 können Zahnärzt*innen die neuen Möglichkeiten der Befundung nutzen. Dass die als Medizinprodukt zugelassene Software von Anfang an in die Praxiskommunikationsplattform „infoskop System“ von synMedico intergriert wurde, war sehr wichtig, um Zahnärzt*innen eine barrierefreie Nutzung zu ermöglichen“, so Goldschmid. Dadurch benötigen die Mediziner*innen keine zusätzliche Technologie. Ein digitales Röntgengerät in der Praxis reicht aus. „Mittels Tablets von synMedico ermöglicht dentalXrai mobil und live am Patienten eine KI-gestützte, automatisierte Röntgenbefundung und bietet den sofortigen Einstieg in die Therapieplanung und Aufklärung mit den Patient*innen“, schildert der dentalXrai-CEO die Herangehensweise. „Das begeistert sowohl die Zahnärzt*innen als auch die Patient*innen.“ Entsprechend erfolgreich war der Markteintritt 2021, der das Berliner Unternehmen dank eines siebenstelligen Umsatzes auf Anhieb zu einem der führenden KI-Unternehmen Europas aus der Zahnmedizin gemacht hat.

Doch auf den Lorbeeren möchte sich das Team nicht ausruhen: „2022 ist ein enorm wichtiges Jahr, denn wir wollen das schnelle Wachstum in Deutschland und Österreich stärken sowie die für 2022 geplante Internationalisierung in das europäische Ausland erfolgreich gestalten“, hat Felix Goldschmid einiges vor. „Aktuell suchen wir daher Verstärkung in den Bereichen Vertrieb und Kundenmanagement, um das starke, technische Team aus IT-Spezialist*innen und Zahnmediziner*innen zu ergänzen.“ Auch wenn die Dentalbranche in ganz Deutschland verstreut und der Standort in Zeiten von Home-Office und Remote Work kleiner geworden sei, komme dem jungen Unternehmen sein Standort Berlin bei der Suche nach guten Mitarbeiter*innen gelegen. „Außerdem entsteht in Berlin ein Ökosystem von KI-Startups u. a. am AI-Campus in Mitte, welches dazu beiträgt, dass der Austausch gefördert wird und Erfahrungen geteilt werden“, meint der CEO. Was für IT-Spezialist*innen gilt, das gilt erst recht für Kolleg*innen aus dem medizinischen Bereich: „Mittlerweile arbeiten wir mit Kliniken und Instituten weltweit zusammen, um einen möglichst breiten und diversen Datenschatz aufzubauen und uns mit Expert*innen der jeweiligen Länder zu vernetzen“, meint der CEO, „allerdings finden bis heute viele Tätigkeiten im Medical-Bereich noch immer in Zusammenarbeit mit der Charité statt und viele von unseren Mitarbeiter*innen haben zuvor an der Charité gearbeitet oder studiert.

Die Nähe zur Charité und der attraktive Standort Berlin sind gute Voraussetzungen für das Startup, seine Pole-Position im jungen Bereich der KI-gestützten Programme in der Zahnmedizin zu behalten oder gar noch weiter auszubauen. „Die Anwendung von KI-gestützten Programmen in der Zahnmedizin hat gerade erst begonnen“, hat Felix Goldschmid eine Vision: „In fünf Jahren ist dentalXrai global auf den wichtigsten Märkten verfügbar und dient Zahnärzt*innen, um die Diagnostik und Therapieplanung auf verschiedenen Bildgebungstypen im Alltag zu vereinfachen und digital mit Patient*innen verbunden zu sein.“ Und sein Kollege Schwendicke fügt hinzu: „Die Zahnmedizin hat den Vorteil, dass sie als Feld eher einige Monate später als früher neue Trends aufnimmt. Fehler, die in anderen medizinischen Bereichen gemacht wurden, werden wir nicht wiederholen.“