© Cromarte Rogers / Coronavirus Structural Task Force

08 Oktober 2025

„Forschung ist dabei, sich wegen KI grundlegend zu verändern.”

Welche neuen Möglichkeiten eröffnen Methoden der Künstlichen Intelligenz in der Strukturbiologie? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Biophysikerin Dr. Andrea Thorn, die seit Juli 2025 am Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) die Abteilung „KI und Biomolekulare Strukturen“ aufbaut. Ihre Arbeit verbindet KI-gestützte Verfahren mit experimentellen Daten von BESSY II, einer der weltweit führenden Quellen für Röntgenlicht, und knüpft an ihre internationale Forschungserfahrung in Göttingen, Cambridge, Oxford und Hamburg an.

Im Interview spricht Thorn über ihr Ziel, molekulare Informationen ähnlich wie in einem Sprachmodell zusammenzuführen, erläutert die Bedeutung von erklärbarer KI und beschreibt die Rolle von Kooperationen im Berliner Wissenschafts- und Innovationsumfeld. Zudem berichtet sie von den Erfahrungen mit der Coronavirus Structural Task Force und gibt einen Ausblick auf kommende Entwicklungen.

 

Frau Dr. Thorn, Sie haben unter anderem in Göttingen, Cambridge, Oxford und Hamburg zu den Wechselwirkungen großer Moleküle geforscht, Software für die Analyse von Diffraktionsdaten – also den Beugungsmustern von Molekülkristallen – entwickelt und eine eigene Forschungsgruppe geleitet. Was reizt Sie vor diesem Hintergrund besonders an Ihrer neuen Aufgabe am HZB?

Die Interdisziplinarität in der Helmholtz-Gesellschaft und im Helmholtz-Zentrum Berlin eröffnet mir und meinen Mitarbeitenden sehr viele neue Möglichkeiten. Hier können wir als Naturwissenschaftler agieren, ohne an die traditionelle Aufteilung Biologie-Physik-Chemie gebunden zu sein. Außerdem ist es am Helmholtz gern gesehen, wenn man zum Beispiel Software entwickelt, die auch anderen Forschenden bei Entdeckungen hilft, während das an anderen Institutionen oft als „Hilfswissenschaft“ oder „reine Technologieentwicklung“ belächelt wird. Da ich und meine Gruppe fest daran glauben, dass die größten Entdeckungen kollaborativ gemacht werden, kommt uns diese „Möglich machen“ Mentalität sehr zu pass. Und dann steht natürlich mit dem BESSY auch eine super Röntgenquelle mit drei Strahlrohren für makromolekulare Kristallographie direkt neben unserem Büro!

 

Sie arbeiten daran, eine KI-basierte Pipeline zu entwickeln, die molekulare Informationen ähnlich wie ein Sprachmodell zusammenführt – ein „ChatGPT für Moleküle“. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Erst einmal arbeiten wir daran, die automatische Evaluation von dreidimensionalen Molekülstrukturen und den experimentellen Daten, auf denen sie basieren, zu verbessern. Mit dieser Pipeline haben wir schon 2020 während der Corona-Pandemie angefangen und konnten bei der Arzneimittelentwicklung viel bewegen. Schon damals haben wir auch KI in der Pipeline verwendet, zum Beispiel, um bestimmte Messfehler zu identifizieren. Dies soll nun zunehmen, und langfristig hoffen wir, ein Expertensystem für biologische Molekülstrukturen zu entwickeln.

 

Ein Fokus Ihrer Arbeit liegt auf der Auswertung experimenteller Daten von BESSY II – einem Elektronenspeicherring, der extrem helles Röntgenlicht für die Forschung erzeugt – mithilfe von maschinellem Lernen. Welche neuen Möglichkeiten eröffnet das?

In der Kristallographie brauchen wir Experten, wenn wir wirklich gute Messungen machen wollen. Allerdings nimmt die Automatisierung zu, und die Nutzer:innen sind immer weniger Experten. Für diese Automatisierung müssen wir Entscheidungen – zum Beispiel den Messabstand oder die Kristallrotation während der Messung – automatisch fällen. Um diese Entscheidungen so gut zu treffen, wie ein Experte das täte, brauchen wir maschinelles Lernen und gute statistische Indikatoren. Diese entwickeln wir.

 

Sie betonen, wie wichtig es ist, dass KI-Analysen in der Molekularbiologie nachvollziehbar bleiben. Warum ist das so entscheidend – und wie setzen Sie das konkret um?

Man nennt das „explainable AI“ oder „XAI“. Diese Methoden sind unheimlich wichtig, weil wir oft verstehen müssen, was genau ein neuronales Netz beim Training gelernt hat. Leider steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen – aber wir benutzen zum Beispiel Algorithmen, die uns sagen, auf welchen Bereich eines Datensatzes das Netzwerk geachtet hat, wenn es uns eine bestimmte Antwort gibt – und das hilft manchmal schon, um zu verstehen, wovon die KI eine Entscheidung abhängig gemacht hat. Generell mögen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keine „Black boxes“ und deswegen ist XAI wirklich wichtig für die Forschung – nur so können wir mit der KI zusammen lernen.

 

Berlin bietet mit der Charité, dem Max Delbrück Center und weiteren Partnern eine starke Infrastruktur in den Bereichen KI und Lebenswissenschaften. Welche Rolle spielt die Kooperation mit anderen Akteuren in ihrer Arbeit und was macht den Standort für Ihre Forschung attraktiv?

Einerseits haben wir international bereits ein gutes Netzwerk von Kollaborationen, aber andererseits haben wir schon vor über einem Jahr angefangen, uns mit dem MDC und den Berliner Unis zu vernetzen. Die Berliner Strukturbiologen sind zum Glück bereits viel miteinander in Kontakt und treffen sich einmal im Jahr zum „Joint MX day“. Das macht Berlin natürlich attraktiv. Andererseits hat der Standort auch wirklich viel im Bereich KI zu bieten und es ist natürlich eine tolle Stadt!

 

Mit Berliner Deep-Techs wie PRAMOMOLECULAR (RNA-basierte Gen-Silencing-Therapien) und Lucid Genomics (KI-gestützte Genom-Analyse für Diagnostik und Biomarker) entstehen neue Ansätze, Krankheiten besser zu diagnostizieren und Therapien gezielter zu entwickeln. Sehen Sie in Ihrer Forschung ähnliche Chancen für konkrete Anwendungen oder sogar künftige Ausgründungen?

Ja, auf alle Fälle! Wir haben mit der Coronavirus Structural Task Force, die 2020-2022 unter meiner Leitung die Molekülstrukturen des Virus untersucht und Informationen kombiniert hat, eine sehr konkrete Anwendung für die Impf- und Arzneistoffentwicklung geliefert. Gleichermaßen wird unsere Software für Cryo-EM und Kristallographie für Akademiker und die Industrie distribuiert und wir haben auch einen Webserver zur Analyse von Röntgendaten. Unsere Gruppe ist also sehr anwendungsnah.

 

Welche wissenschaftlichen Beiträge und persönlichen Erfahrungen haben Sie mit der Coronavirus Structural Task Force gemacht – und wie beeinflussen diese Ihre heutige Forschung?

In der Pandemie haben wir über 3000 Molekülstrukturen aus SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 systematisch analysiert. Wir haben das akkurateste 3D-Modell des Virus hergestellt und veröffentlicht und auch animiert, wie eine Wirtszelle auf molekularer Ebene befallen wird. Insgesamt konnten wir vielen Forschenden und Entwicklern weltweit helfen. Das macht mich sehr stolz – aber wir haben mit 27 Experten mehr als zwei Jahre gebraucht. Heute frage ich mich, wieviel davon automatisierbar wäre, vor allem mit Blick auf sogenannte Foundation Models – Ihnen vielleicht bekannt als Large Language Models (LLMs).

 

Wenn Sie fünf Jahre in die Zukunft blicken: Was möchten Sie mit Ihrer Forschung für das HZB erreichen?

Ich würde gerne erreichen, dass wir strukturbiologische Informationen weltweit mit ein paar Clicks miteinander in Kontext setzen, kombinieren und auswerten können – egal, in welchem Labor die Daten erzeugt wurden. Damit wir die molekulare Basis des Lebens besser verstehen und auf die nächste Pandemie besser vorbereitet sind. Ich würde außerdem gerne das Thema „chemische Prozesse in Pilzen” am HZB einbringen, aber das steht noch in den Sternen…

 

Welche Entwicklung könnte das Zusammenspiel von Forschung und Künstlicher Intelligenz in Zukunft noch nehmen – in Deutschland, aber auch global gesehen?

Forschung ist dabei, sich wegen KI grundlegend zu verändern. Das sieht man schon zum Beispiel im Bereich Scientific Publishing. Das ist problematisch, weil Wissenschaft selbst zwar immer topaktuell ist – das liegt in der Natur der Sache – aber unsere Systeme, Professuren, Literatur, Nobelpreise etc., sehr alten Mustern folgen und sich nur langsam verändern. Maschinelles Lernen wird uns helfen und uns unterstützen, aber es zwingt uns auch zum Umdenken bei unserer eigenen Arbeit und bei der Ausbildung der nächsten Generation. Ich bin sehr gespannt darauf!

 

Vielen Dank für das Gespräch.