David Neville und Rocío Acuña Hidalgo schauen in die Kamera

22 Juni 2022

„Die KI-basierte Diagnostik sollte in Zukunft zentrales Mitglied eines Teams werden.“

Viele Menschen mit genetischen Krankheiten haben noch immer Probleme, eine Diagnose in kurzer Zeit zu erhalten. Eine DNA-Analyse dauert meist lange und ist nicht immer genau, wodurch sich die richtige Behandlung verzögert oder gar nicht erst durchgeführt werden kann. Das Berliner KI-Startup Nostos Genomics hat hierfür eine Lösung entwickelt: Algorithmen verkürzen den Zeitaufwand für eine Analyse von zwölf Stunden auf nur zwei Minuten. Wie genau das funktioniert, haben uns die Co-Gründerin und CTO Rocío Acuña Hidalgo und der Head of AI David Neville im Interview verraten.

 

Hallo Rocío und David, danke, dass ihr euch die Zeit für dieses Interview nehmt! Der Sommer hat nun langsam begonnen, also würden wir von euch gerne wissen: Was ist euer heißer Tipp für Sommernächte in Berlin?

Rocío: Schnappt euch ein Bier und geht zur Admiralbrücke, um den Sonnenuntergang zu sehen! Oder wenn ihr eine Abkühlung braucht, nehmt die S-Bahn zum Schlachtensee, um dort in den See zu springen.

Rocío, du hast Nostos Genomics zusammen mit deinem Mitgründer David Gorgan 2018 gegründet. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, das Unternehmen zu starten?

Rocío: Während meiner Promotion und meines Postdocs hatte ich erstmals mit Organisationen für Patient*innen mit genetischen Krankheiten zu tun. Diese Patient*innen versuchten, einen Weg zur Entwicklung von Behandlungen für ihre Krankheit zu finden, und ich begann, sie bei ihrer wissenschaftlichen Strategie zu beraten. Im Laufe unserer Zusammenarbeit habe ich mehr über die Herausforderungen, mit denen Menschen mit genetischen Krankheiten konfrontiert sind, gelernt. Dazu gehört zum Beispiel eine Diagnose und anschließend eine angemessene medizinische Behandlung zu erhalten. Ich fühlte mich von den Menschen, mit denen ich arbeitete, sehr inspiriert und habe dann beschlossen, das Wissen, das ich während meiner medizinischen Ausbildung und meiner Promotion erworben hatte, in etwas umzusetzen, das in der realen Welt von Bedeutung sein kann.

Mit Nostos Genomics helft ihr Menschen mit genetischen Krankheiten mit Hilfe von KI. Wie ist der aktuelle Stand in diesem Bereich und wie versucht ihr, diese Lücke zu schließen?

Rocío: In den letzten zehn Jahren hat es viele technologische Entwicklungen gegeben, die die Art und Weise, wie wir genetische Krankheiten diagnostizieren, verändert haben. Während sich die Technologie zum Ablesen der DNA und zur Aufbereitung der Daten für die Analyse erheblich verändert hat, hat sich der Prozess, mit dem die genetischen Daten analysiert werden, nicht so stark weiterentwickelt. Derzeit wird dieser Schritt in der Regel manuell von Genetikexpert*innen durchgeführt, die die genetischen Daten der Patient*innen analysieren und dabei Informationen aus verschiedenen Quellen integrieren, um eine Diagnose zu stellen. Dieser Prozess ist mühsam, teuer und die Ergebnisse sind nicht immer reproduzierbar. Für Patient*innen bedeutet das leider, dass sie mehrere Monate auf ihre Testergebnisse warten müssen, die dann in mehr als 50 % der Fälle weder nützlich noch schlüssig sind.

Wir bei Nostos Genomics schließen diese Lücke, indem wir Algorithmen zur Automatisierung dieses Prozesses entwickeln, die den Zeitaufwand für die Analyse von zwölf Stunden auf nur zwei Minuten pro Probe verkürzen und mehr nützliche Informationen aus den analysierten genetischen und klinischen Daten extrahieren. Dies führt zu kürzeren Durchlaufzeiten für genetische Tests, niedrigeren Kosten und genaueren Ergebnissen für die Patient*innen.

Eure Lösung basiert auf einer KI-gesteuerten Varianteninterpretation, die weniger als zwei Minuten dauern soll. Wie genau funktioniert das?

David: Unser proprietäres System verhält sich sehr ähnlich wie ein*e menschliche*r Expert*in. Zunächst greift es auf alle relevanten Datenbestände zu, um genetische, biologische und klinische Daten abzurufen, sodass jede genetische Variante durch Integration dieser Informationen in einen Kontext gestellt werden kann. Anschließend lernt die KI die Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus den Daten, was ihr hilft, die klinische Auswirkung für jede genetische Variante vorherzusagen. Sobald die KI trainiert ist, können wir denselben Algorithmus verwenden, um Patientenproben zu verarbeiten und zu bestimmen, welche der bei den Patient*innen beobachteten genetischen Varianten am wahrscheinlichsten klinisch bedeutsam sind.

Welche Vorteile bietet eure Lösung "AION" im Vergleich zu herkömmlichen Lösungen für die Interpretation genetischer Variationen?

David: Die meisten bestehenden Lösungen für die Varianteninterpretation beruhen entweder auf automatisierten Expertensystemen, die leicht zu interpretieren, aber in ihren Möglichkeiten begrenzt sind, oder auf Ansätzen, die extrem leistungsstark, aber schwer zu interpretieren sind.

Die Richtlinien des American College of Medical Genetics (ACMG), die heute den goldenen Standard für die Varianteninterpretation darstellen, sind ein gutes Beispiel für die erste Art von Lösungen. Bei diesem Ansatz handelt es sich um ein Expertenregelsystem, das leicht zu verstehen ist, aber für die meisten genetischen Varianten keine brauchbare Interpretation liefert. Lösungen, die auf Deep Learning basieren, sind ein Beispiel für die zweite Art von Systemen, die oft eine hervorragende Leistung aufweisen, aber für den klinischen Einsatz ungeeignet sind, weil das Verständnis, warum das System eine Vorhersage getroffen hat, den Einsatz spezieller Techniken zur Dekodierung erfordert.

Unsere Lösung "AION" bietet das Beste aus beiden Welten. Es strukturiert und verwendet Informationen in einer völlig klaren und transparenten Weise, vergleichbar mit dem einfachen Verständnis der ACMG-Leitlinien. Da es sich jedoch um ein maschinelles Lernsystem handelt, ist es in der Lage, eine große Anzahl von Fällen in einem Bruchteil der Zeit mit extrem hoher Präzision zu analysieren. Darüber hinaus ist unsere Lösung in der Lage, Fälle zu erkennen, in denen die Daten nicht ausreichen, um eine zuverlässige Interpretation zu ermöglichen, obwohl die Diagnose sehr wahrscheinlich ist. Diese Fähigkeit wiederum ermöglicht eine erneute Analyse des Falles, nachdem zusätzliche Informationen gewonnen wurden.

Es ist schon erstaunlich zu sehen, was KI heute leisten kann. Habt ihr eine Vision für die Zukunft, was ihr mit Hilfe von KI noch erreichen möchtet?

David: Die derzeitigen KI-Lösungen für die Diagnose seltener Krankheiten konzentrieren sich auf eine Interaktion zwischen Mensch und Automatisierung. In dieser Lösung nutzt der/die menschliche Expert*in das KI-Tool, um eine sehr mühsame Aufgabe wie die Varianteninterpretation zu automatisieren. Ich würde mir wünschen, dass sich die KI in Zukunft von einem solchen Schema wegbewegt hin zu mehr Human-Autonomy-Teams (HAT). Der Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall die KI vom menschlichen Expert*innen als Werkzeug eingesetzt wird, um eine zeitaufwändige und mühsame Aufgabe schnell zu erledigen. Im zweiten Fall fungiert die KI stattdessen als Teammitglied, das eigene Erkenntnisse liefert, die Argumentation der menschlichen Expert*innen in Frage stellt und schließlich kontinuierlich aus den Interaktionen mit diesen lernt. In dieser Hinsicht würde ich mir wünschen, dass die KI-basierte Diagnostik in Zukunft nicht nur ein Bioinformatik-Tool, sondern ein zentrales Mitglied eines Teams wird.

Ihr habt kürzlich in einer Seed-Runde 5 Millionen Euro eingeworben, herzlichen Glückwunsch dazu! In was wollt ihr das Geld investieren?

Rocío: Vielen Dank! Wir planen, unser Unternehmen auszubauen, um unsere Technologie für die Diagnostik genetischer Krankheiten weiter zu verbessern, klinische Validierungsstudien durchzuführen und in neue europäische Märkte und die USA zu expandieren.

Im Bereich der Künstlichen Intelligenz wächst und gedeiht das Berliner KI-Ökosystem. Was macht den Standort so besonders und warum habt ihr euer Unternehmen gerade hier gegründet?

Rocío: Berlin ist voll von weltbekannten Universitäten und Forschungszentren und hat eine aufstrebende Tech-Szene, die zusammen eine Menge Talente und Innovationen anziehen. Eigentlich bin ich zuerst nach Berlin gezogen, um am Max-Planck-Institut zu forschen, wovon ich schon seit fast einem Jahrzehnt geträumt hatte! Dann habe ich an einem der ersten Entrepreneur-First-Programme in Berlin teilgenommen und traf dort meinen Mitgründer David Gorgan – und der Rest ist Geschichte.