Prof. Tim Landgraf, Dahlem Center für Machine Learning and Robotics, FU Berlin © Tim Landgraf

01 Juli 2025

"Wir müssen Unternehmergeist gezielt fördern. Noch fehlt oft die Risikobereitschaft."

Wie kann man das Verhalten von Bienenvölkern nutzen, um unsere Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten? Und was lernen wir aus dem Schwarmverhalten von Tieren für die Robotik und Künstliche Intelligenz? Prof. Dr. Tim Landgraf, Leiter einer interdisziplinären Forschungsgruppe am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics der FU Berlin, bewegt sich genau an dieser faszinierenden Schnittstelle zwischen Biologie, KI und Robotik.

Im Interview spricht er über seine Forschung zu Schwärmen als „biologische Computer“, erklärt, wie der Roboter „Polly“ gezielt Bienenflüge steuert – und warum es oft viele Hypothesen, Daten und Geduld braucht, bis aus einer biologischen Idee ein funktionierendes KI-System wird. Außerdem gibt er spannende Einblicke in Berlins KI-Ökosystem, verrät, welche Startups ihn besonders beeindrucken, und warum Hochschulen mehr Mut zum Unternehmertum brauchen.

Herr Prof. Landgraf, was hat Sie ursprünglich zur Forschung an der Schnittstelle zwischen Biologie, Robotik und Machine Learning gebracht – und was hat sie an das Dahlem Center for Machine Learning and Robotics gebracht?

Soziale Interaktionen sind die Basis allen menschlichen Wissens und Handelns. Mich fasziniert, wie Schwärme ohne zentrale Steuerung Informationen verarbeiten. Mit meinem Hintergrund in KI und Robotik untersuche ich diese „biologischen Computer“ in Tiergruppen. Am Dahlem Center finde ich ideale Bedingungen, um datengetriebene Methoden, Robotik, Grundlagenforschung in Biologie und Medizin und KI-Methodenentwicklung zu verbinden – echte Interdisziplinarität statt bloßer Lippenbekenntnisse.

Ihre Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit faszinierenden Themen wie Schwarmverhalten, Insektenrobotik und bio-inspirierter KI. Können Sie uns ein aktuelles Projekt vorstellen, das Sie besonders begeistert – und warum?

Da menschliche soziale Interaktionen schwierig zu tracken sind, nutzen wir meist Tiermodelle, wie Honigbienenkolonien oder Fischschwärme, um genauer zu untersuchen, wie Informationen repräsentiert und verarbeitet werden, oder wie die Gruppe zu Entscheidungen kommt. Mit hochauflösenden Kameras und KI können wir alle Individuen im Schwarm beobachten, mehrere Tausend Bienen z.B. im Bienenstock. Ein tieferes Verständnis der Grundlagen ermöglicht interessante Anwendungen. Ein Highlight ist unser Roboter „Polly“ – eine Art Kino für Bienen. Er simuliert für einzelne Sammlerinnen den Flug zu Futterquellen, sodass sie glauben, draußen Nektar gefunden zu haben. Diese Information geben sie mittels Bienentanz an andere Sammlerinnen im Stock weiter, was gezielte Flüge an reale (und von uns einstellbare) Orte auslöst. Damit können wir kontrollieren, wohin das Bienenvolk Arbeiterinnen schickt und somit die Bestäubung landwirtschaftlicher Flächen effizienter gestalten, den Einsatz von Bienenvölkern reduzieren und deren Transportstress verringern – ein Beitrag zu nachhaltiger Landwirtschaft.

Wie gelingt es Ihnen, biologische Prinzipien so in Algorithmen und Roboter zu übersetzen, dass daraus tatsächlich robuste und lernfähige Systeme entstehen? Wo liegen hier die größten Herausforderungen?

Wir beginnen meist mit einer präzisen Analyse des biologischen Vorbilds – oft unterstützt durch KI, um länger, schneller und objektiver beobachten zu können. Oft braucht es mehrere Zyklen aus Hypothesen, Experimenten und Datenanalysen. In diesen Zyklen entstehen neben dem Wissensgewinn oft interessante Forschungs-Äste: neue digitale Modelle, auf neue Daten trainierte KI-Systeme, und manchmal bioinspirierte physische Systeme. Einen erfolgreichen Transfer haben wir zum Beispiel in einem Schwarm-Ladesystem für Elektrofahrzeuge geschaffen. So wie Bienen einander Honig übergeben können (sie haben einen extra Magen nur für andere), könnten in Zukunft auch Elektroautos während der Fahrt einander kleine „Energiesnacks“ übergeben.
 

Anwendungen wie diese sind jedoch eher die Spitze des Eisbergs – die Grundlagenforschung darunter ist oft mühsam, langwierig und im Vergleich zu anderen Forschungsrichtungen eher eine Nische. Hauptlimitierende Faktoren sind trotzdem immer dieselben: Rechenkapazität, Funding und wenn es um Personendaten geht, wie z.B. in der Medizin, der Datenschutz – ein strukturelles Problem.

Berlin gilt als wachsender Forschungsstandort für Künstliche Intelligenz und Robotik. Wie erleben Sie die Kooperation zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen wie der FU Berlin und außeruniversitären Forschungszentren, etwa dem BIFOLD oder der Fraunhofer Institute?

Berlin ist klein genug, dass man sich kennt – und groß genug, um fast jedes Spezialwissen in Fahrradreichweite zu finden. Ich arbeite mit Partnern an allen drei Berliner Universitäten, der Charité und verschiedenen Leibniz- und Fraunhofer-Instituten zusammen. Zusammen  bauen wir ein Kompetenzzentrum für Open-Source-Hardware, entwickeln Komponenten für eine intelligente Gesundheitsversorgung und forschen an neuen KI-Methoden. Auch wenn meine Forschung grundlagenorientiert ist, entstehen regelmäßig spannende Kooperationen mit der Industrie und der öffentlichen Verwaltung – ein starkes Zeichen für das Potenzial, das wir in Berlin und Deutschland heben könnten.

Wo sehen Sie momentan in Berlin die spannendsten Ansätze, wenn es um die Umsetzung von KI-Forschung in industrielle Anwendungen geht – etwa in der Robotik, Logistik oder Landwirtschaft?

Es gibt viele spannende Startups, die die LLM-Welle reiten, wie Qdrant, Parloa oder VIA Health. Ein paar Beispiele, die mir besonders gefallen, auch weil sie einen ungewöhnlichen Weg gehen oder in ihrer Branche mutig sind:

  • Peregrine – ein Startup von ehemaligen Kollegen am DCMLR, das mit KI in Dashcams Fahrzeugflotten optimiert – oder besser: Fahrzeugschwärme. Tolle Gründer und tolle Vision!
  • Inceptive – entwickelt Modelle im Bereich der Molekularbiologie und setzt massiv auf reale Daten, statt Simulationen. In der Biologie hängt alles irgendwie zusammen. Aus den Daten gute Vorhersagen abzuleiten wird hier den Unterschied machen. Tolles Team, sehr fähige Leute. 
  • 7Learnings – nutzt KI zur dynamischen Preisgestaltung im Einzelhandel unter Berücksichtigung der komplexen Marktumgebung. Auch hier hängt alles mit allem zusammen und dieses Team hat das Zeug, daraus echten Wert zu schaffen.
  • Korsch AG – ein Berliner Traditionsunternehmen, das mit KI seine Tablettenpressen noch flexibler und reaktionsfähiger macht – wichtige Innovationen in einer konservativen Branche!

In den letzten Jahren sind in Europa – auch in Deutschland – immer mehr wissenschaftlich fundierte KI-Startups entstanden – Stichwort UNITE, der zentrale Hub für Innovation und Unternehmertum in Berlin-Brandenburg. Welche Rolle spielen dabei Hochschulen wie Ihre, und welche Strukturen braucht es aus Ihrer Sicht, um diesen Transfer noch besser zu fördern?

Wir müssen Unternehmergeist gezielt fördern. Noch fehlt oft die Risikobereitschaft – auch weil der Transfer in der Ausbildung kaum vorkommt. Ich biete gerade das Seminar „How to Startup“ an – und frage mich, warum ich das nicht schon früher gemacht habe. Wir haben technisch brillante Studierende, aber wenig frühe Guidance. Das Land könnte gezielt Gründungen aus Lehrveranstaltungen fördern, quasi als Teil einer “Hand-On”-Ausbildung. Dazu brauchen wir IP-light-Verträge, mehr Entrepreneurship-Kurse ab dem Bachelor und offene Makerspaces, in denen Prototypen nicht an Brandschutzverordnungen scheitern. Die Risikobereitschaft in der deutschen Investitionskultur ist ein weiterer Hemmschuh. Viele Startups lösen auch immer wieder die gleichen Probleme – Strukturen wie UNITE helfen beim schnellen Aufbau und sind Gold wert, aber müssen noch weiter hochskaliert werden. Ich finde, wir könnten auch gemeinsam genutzte Infrastrukturen finanzieren, und enge Partnerschaften aus Unis und Startups strukturell in öffentliche Aufträge einbinden.

Wie beurteilen Sie die Verfügbarkeit von qualifizierten ML- und Robotik-Talenten in Berlin – sowohl auf der Forschungs- als auch auf der Unternehmensseite? Gibt es hier einen Mangel oder eher eine gute Dynamik?

Fachkräfte sind rar, Talente zieht es aber zunehmend direkt in die Industrie – mehr noch als früher. Während Machine Learning durch mietbare Rechenressourcen und frei zugängliches Lernmaterial relativ leicht zugänglich ist, bleibt Robotik hardwareintensiv und damit aufwändiger. Das macht sich auch bei der Nachwuchsgewinnung bemerkbar.

Wenn Sie einen Blick in die nächsten fünf bis zehn Jahre werfen: Wo sehen Sie die größten Potenziale für Ihre Forschung – und welchen Beitrag kann Berlin dabei leisten, um international wettbewerbsfähig zu bleiben?

Das Verständnis kollektiven Verhaltens wird in vielen Bereichen wichtiger – etwa in der Gesundheit (Verhalten als Krankheitsfaktor), Mobilität (Staus als emergente Phänomene) oder Politik (KI verändert Kommunikation – wir müssen gesellschaftliche Dynamiken besser verstehen). Spannend wird es, wenn diese bisher eher getrennten Bereiche in der Modellierung der Welt zusammenkommen und ein breites Verständnis ermöglichen, wie jeder Teil zum Ganzen beiträgt – mega spannend!

Berlin – und Europa insgesamt – muss Bürokratie abbauen, Innovationsfreiräume schaffen, mutiger investieren, neue Bildungswege denken und Zugriff auf (unser aller!) Daten für Forschung und Entwicklung ermöglichen. Sonst verlieren wir den Anschluss.

Vielen Dank für das Gespräch.