Weltweit bekommt eine von acht Frauen im Laufe ihres Lebens die Diagnose Brustkrebs, dabei helfen Screening-Programme die Sterblichkeitsrate bereits um 25 Prozent zu senken. Alleine 2019 wurden insgesamt mehr als 250 Millionen Mammographien durchgeführt, was dazu führt, dass die repetitive Begutachtung von Befunden sowohl die Krankenkassen als auch die ausführenden Radiologen mehr und mehr belastet. Das Berliner Start-up Vara aus der Schmiede des Merantix-Venture-Studios hat daher eine gleichnamige Software entwickelt, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz gesunde von auffälligen Mammographien automatisiert unterscheiden kann und den Ärzten somit ein Werkzeug für eine effizientere Arbeit an die Hand gibt. #ki_berlin hat sich mit Dr. Moritz Brehmer, Radiologe und Medical Director bei Vara, über die Anfänge des jungen Start-ups, das Heilsversprechen von KI sowie das deutsche Screening-Programm unterhalten.
Vara wurde 2018 gegründet und ist aus dem Company-Builder Merantix hervorgegangen. Wie kam es zur Ausgründung und wie ist Ihr Team heute aufgestellt?
Ich habe bereits 2017 gemeinsam mit Jonas Muff an einer Lösung für das Mammographie-Screening gearbeitet und mit der Seed-Finanzierung von Merantix haben wir als kleines Team sehr viel Spielraum erhalten, um einiges ausprobieren zu können. Als wir dann Sicherheit und Klarheit hatten, wie das Produkt der KI-Software letztendlich genau aussehen könnte, war dann der Zeitpunkt gekommen auf eigenen Füßen zu stehen.
Die Ausgründung erfolgte dann stante pede und die finanzielle Eigenständigkeit kam mit der Series-A-Finanzierung, die wir im April diesen Jahres auch erfolgreich abgeschlossen haben. Es war natürlich sehr hilfreich, dass uns Merantix dieses Biotop zur Verfügung gestellt hat, um eben überhaupt so weit zu kommen, dass man seriös eine Series-A-Finanzierung auf die Beine stellen konnte.
Von der Teamaufstellung her sind wir seit 2018 ganz schön gewachsen: Mittlerweile sind wir ein Team aus 25 Ärzten, Forschern, Entwicklern und Unternehmern.
Seit Ende letzten Jahres ist Vara die erste CE-zertifizierte KI-Software für die Krebsvorsorge in Deutschland. Was ist das Besondere an Ihrem Produkt?
Das Besondere an Vara ist, dass wir nicht nur ein Algorithmus sind, sondern eine End-to-End-Workflow-Lösung für das Mammographie-Screening, welche als Kernkompetenz KI und Workflow in einer optimalen Lösung zusammenbringt. Unsere Lösung schließt bei der Sondierung der Screening-Resultate keine Ergebnisse aus, sondern möchte stattdessen eine Vorauswahl treffen – die Sortierung in unauffällige und auffällige Befunde – damit Ärzte ihre Arbeit besser priorisieren können, in Tätigkeiten, die mehr und weniger Aufmerksamkeit bedürfen.
Wie kann uns Künstliche Intelligenz im Bereich der Radiologie weiterhelfen, was kann sie leisten und was soll sie nicht sein?
Das Heilsversprechen, dass Künstliche Intelligenz die Aufgaben des Radiologen komplett abnimmt und verändert, hat sich keinesfalls bewahrheitet. Unserer Meinung nach kann KI insbesondere in der Radiologie nur in guter Verzahnung von Workflow und KI-Unterstützung funktionieren. Es geht hier nicht um das Ersetzen von ärztlicher Leistung, sondern um eine Augmentation. Das letzte Wort hat der menschliche Experte und nicht der Algorithmus.
Wie ist es bei Vara um die Datensicherheit bestellt?
Datensicherheit ist ein wichtiges Thema in unserem Bereich und sowohl wir als auch unsere Kunden legen größten Wert darauf. Wir haben uns deshalb für eine Serverinfrastruktur auf deutschem Boden entschieden und lassen unser Sicherheitsniveau regelmäßig von unabhängigen Experten testen. Dazu verwenden wir modernste Verschlüsselungstechnologien und haben viele sogenannte “technische und organisatorische Maßnahmen” implementiert, um hinreichenden Datenschutz garantieren zu können.
Die CE-Zertifizierung wurde in der Vergangenheit für physische Produkte und eher selten für Software vergeben. Sehen Sie dieses Umdenken als Schritt in die richtige Richtung, hin auch zu einer gesteigerten Anerkennung von Digital-Health-Applikationen?
Die CE-Zertifizierung wurde auch schon vor uns an Software-Produkte vergeben. Nichtsdestotrotz beziehen die Regularien sich in großen Teilen noch auf physische Medizinprodukte – welche es ja auch weiterhin geben wird – da ist es manchmal schwierig als Software die Anforderungen zu erfüllen, weil sie teilweise weniger anwendbar sind. Generell ist es eine positive Entwicklung, dass digitale Medizinprodukte einen immer größeren Stellenwert erhalten. Die Regulierung könnte sich allerdings in Zukunft noch ein bisschen besser darauf einstellen.
Brustkrebs ist die häufigste Krebsart in Deutschland und ist gleichzeitig für die meisten Krebstoten verantwortlich. Wie ist es um die Brustkrebsvorsorge und Mammographie-Screenings in Deutschland bestellt – auch im Vergleich zu anderen Ländern?
Wir haben in Deutschland ein wirklich exzellentes Mammographie-Screening-Programm, welches jedoch auch Herausforderungen ausgesetzt ist. Es ist ein sehr aufwändiges Programm, welches sehr gut evaluiert und digital erschlossen ist: Es handelt sich hier um zwei ärztliche Kollegen, die unabhängig voneinander doppelt – wir sprechen hier von einem „double-read“ – über jede Mammographie, die im Screening angefertigt wird, befinden. Wenn die Ergebnisse nicht übereinstimmen sollten, wird noch eine sogenannte Konsensus-Konferenz einberufen, die dann das endgültige Ergebnis festlegt. Alle Mammographien werden in zwei verschiedenen Systemen dokumentiert und zentral statistisch evaluiert – speziell über die Kooperationsgemeinschaft Mammographie, hier in Berlin.
Allgemein ist das europäische Ausland in Bezug auf die Früherkennung von Brustkrebs gut aufgestellt, jedoch nicht in diesem Ausmaß, wie Deutschland. Da ist es teilweise schwierig, einen „single-read“, geschweige denn einen double-read zu bekommen, und es gibt auch keine so ausgefeilte Evaluation und Dokumentation. Der Grund, warum wir so erfolgreich sind, ist der, dass wir eine Lösung anbieten, die es erleichtern kann, dass auch im europäischen Bereich qualitativ hochwertiges Screening in Zukunft einfacher wird.
Was sind hier die Pläne für die Zukunft? Der amerikanische Markt und die Zulassung durch die FDA sind ja vermutlich auch ein Fokus für Vara…
Der amerikanische Markt ist natürlich deutlich anders aufgestellt, als man das von Europa her kennt. Es gibt zum Beispiel keine populationsbasierten Screening-Programme mit einem zentralen Einladungswesen, so wie wir das hier haben. Jede Frau, die beim Einwohnermeldeamt registriert und zwischen 50 und 69 Jahre alt ist, bekommt eine Benachrichtigung, während man in den USA nach dem Format des Walk-in-Screenings verfährt. Es wird hier sehr viel Werbung gemacht, an die Frauen appelliert, zur Vorsorge zu kommen und oft muss es vom Patienten selbst bezahlt werden.
Was im Vergleich zum europäischen Raum ebenfalls anders ist, ist die Technologie der Screenings: In den USA wird mit einer 3D- statt mit einem 2D-Mammographie gearbeitet, das heißt, es können mehr Schichten des Brustgewebes akquiriert werden. Das können wir in Deutschland momentan noch nicht, das wird vielleicht noch kommen. Der amerikanische Markt und eine FDA-Zulassung sind sicherlich spannende Zukunftsoptionen für Vara, weil wir denken, dass das, was wir hier in Deutschland anbieten, in gewisser Weise übertragbar ist und wir mit unserem Produkt das amerikanische Screening-Programm verbessern können.
Kommen wir zurück nach Berlin: Die hiesige KI-Szene ist ja besonders im Gesundheitsbereich gut aufgestellt und Merantix plant für das nächste Jahr den KI-Campus. Wie sehen Sie den Standort Berlin – auch im Hinblick auf die Vernetzung von Start-ups, größeren Unternehmen und der Forschung?
Das Berliner Ökosystem ist mit seiner Vielzahl an Unternehmen, Start-ups und der Forschung führend in Deutschland und in der KI-Community findet ein reger Austausch statt, beispielsweise mit den Kollegen im Bereich Machine Learning. Der für 2021 geplante KI-Campus von Merantix wird dazu beitragen, dass die Vernetzung noch weiter voranschreitet und die Stadt ihre Position als KI-Hochburg weiter ausbauen kann.
Vielen Dank für das Gespräch.