Ein Helm, der mit einer Infrarot-Kamera und einem AR-Headset die Körpertemperatur von 200 Personen im Umkreis von fünf Metern misst: Die Erfindung des chinesischen Start-ups KC Wearable soll Fieber und damit eine Infektion mit COVID-19 erkennen. Letzteres ist auch das Ziel eines Pflasters, das an der US-amerikanischen Northwestern University kreiert wurde. Sensoren am Hals prüfen Atmungsaktivitäten, Husten, erhöhte Temperatur und Herzschlag. Ein Algorithmus wertet die Daten aus, um frühzeitig auf Symptome des Corona-Virus hinzuweisen. Es handelt sich um zwei von vielen Beispielen, wie Wissenschaftler, Start-ups und Technologieunternehmen hoffen, im Kampf gegen COVID-19 die Oberhand zu gewinnen. Die Vorreiter setzen dabei auf smarte Waffen: Daten und Künstliche Intelligenz.
RKI Datenspende-App: Vitaldaten fördern Corona-Verständnis
Zu beiden greift auch das Berliner Start-up „Thryve” (mHealth Pioneers). Das 15-köpfige Team lieferte die Technologie für die Corona-Datenspende-App des Robert Koch-Instituts (RKI): Seit Anfang April können Bürgerinnen und Bürger über Smartphone, Fitnessarmband oder Smartwatch freiwillig Daten zu Verfügung stellen, um „die Dunkelziffer der (Anm.: COVID-19-) Infizierten drastisch zu verringern“, erklärte der RKI-Experte und Professor Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt Universität. Gesammelt werden Vitaldaten wie Puls, Herzratenvariabilität, Stress und Temperatur, aber auch Aktivitäten wie Gehen oder Schlafphasen. Dazu kommen soziodemografische Daten, soweit die Nutzer sie eingegeben haben. Die Postleitzahl soll die regionale Verbreitung des Virus abbilden. All diese Informationen seien pseudonymisiert und dienen nicht zur Nachverfolgung von Kontaktpersonen, betont das RKI. Vielmehr „sind die Daten für Epidemiologen unglaublich wertvoll und helfen, bessere Maßnahmen abzuleiten“, meint Brockmann.
Digital Health-Pioniere, Opa sei dank!
Wenn die RKI-Experten der Lösung des Rätsels um COVID-19 immer näher kommen, ist das ein Stückweit den kranken Großvätern von Friedrich Lämmel und seinem Studienkollegen Paul Burggraf zu verdanken. „Als Berater im Technologiebereich waren sie es gewohnt in vollständig digitalisierten Umgebungen stets alle nötigen Informationen vorliegen zu haben", heißt es seitens Thryve, „bei der Krankheit ihrer Liebsten war das leider nicht der Fall.“ Zwar kamen die ersten Digital-Health-Anwendungen auf den Markt, doch es mangelte an aggregierten Daten und deren Analyse. Kurz: „Ein konstantes Monitoring des Gesundheitszustandes war nicht möglich.“ Genau darin sahen sie das Potenzial der digitalen Möglichkeiten. Mit John Trimpop, den sie am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) trafen, gründeten sie das Spin-Off Thryve („to thrive“ – aufblühen, gedeihen). Der Name ist Programm: „Entsprechend der Idee, dass Digital Health Services mit unserer Technologie erst so richtig aufblühen und ihre Stärken zeigen können”, bringt Lämmel den USP der Datenanbindung und -analysen auf den Punkt.
Friedrich Lämmel, CEO Thryve © Thryve
„Digitales Fieberthermometer“ für das ganze Land
An Daten selbst mangelt es dafür nicht: „Schon heute sammeln viele Nutzer diese wertvollen Gesundheitsdaten“, weiß der Thryve CEO und Gründer. Die Herausforderung besteht darin, dass verschiedene Wearables verschiedene Sensoren haben und deshalb unterschiedliche Daten senden. Hier kommen die Berliner ins Spiel. „Thryve vereint die Daten aus Wearables, Blutzuckermessgeräten und vielen weiteren Quellen in einer Integration und liefert einen harmonisierten Datenstrom aus mehr als 300 verschiedenen Quellen und Geräten“, so der ehemalige Berater. Bei der Datenspende-App etwa sind Google Fit, Apple Health, Fitbit, Garmin, Withings und Polar angebunden; mit einem nächsten Update kommen Samsung Health, Oura und Amazfit dazu. „Hinzu kommt, dass wir die Daten mit zahlreichen Analysen und Algorithmen weiter anreichern, um Gesundheitsversorgern ein besseres Verständnis über den individuellen Gesundheitszustand zu ermöglichen“, ergänzt Lämmel. „Diese KI nennen wir ‚Interpretation-Layer’.“ Dieser zeigt ein tägliches Gesamtbild der Vitalzustände und Aktivitäten. Außerdem „identifiziert er etwa für bestimmte Krankheiten charakteristische Änderungen und weist Risiko-Scorings aus", fügt er hinzu. Wenn sich beispielsweise Puls, Herzratenvariabilität, Temperatur oder Schlafphasen ändern, kann ein von Thryve entwickelter Algorithmus Fieber in Wearable-Daten entdecken. „Da Fieber eines der Symptome von COVID-19 sind, erkannten wir, dass wir mit dieser Technologie helfen können", so Lämmel. „Wir wollten die Dunkelziffer der Fälle verringern und ein digitales Fieberthermometer für das ganze Land bauen.“ Etwa 500.000 Deutsche nutzen eben dieses seither und stellen ihre wertvollen Daten zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Dass sie das unbesorgt tun können, das garantieren die rigiden Datensicherheit-Standards: So erfolgte die Entwicklung der Corona-Datenspende-App streng nach den Vorgaben des Datenschutzes und in enger Abstimmung mit dem Datenschutzbeauftragten des Robert Koch-Instituts. Außerdem sind externe Datenschutz- und Datensicherheitsexperten in die Prüfung von Servern und Schnittstellen eingebunden. „Ohne diese besondere Sorgfalt wäre ein Projekt mit dem Robert Koch-Institut gar nicht möglich gewesen“, betont der frühere Industrieberater und fügt hinzu: „Wir sind uns der großen Verantwortung, die Gesundheitsdaten mit sich bringen, durchaus bewusst.“
Von Berlin bis Australien, Finnland und Indien
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer hat das Team jedenfalls überzeugt. Der renommierte Arzt zählt mit Unternehmer und TV-Juror Carsten Maschmeyer sowie Digital-Health-Investor Min-Sung Sean Kim zu den größten Investoren des Fraunhofer-Spin-Offs. „Einzig mit objektiven Gesundheitsdaten können wir Mediziner ein ganzheitliches Bild der Gesundheit des Patienten erhalten”, meint er. „Und genau hier ermöglicht Thryve einen enormen Sprung nach vorne.“ Kunden wie die Berliner Charité können das bestätigen: Seit Jahren setzt das Universitätsklinikum auf die KI aus dem Hause Thryve, um die Puls- und Atmungserkennung per Smartwatch in der Schlafmedizin zu untersuchen. Auch die auf Kardiologie spezialisierte Klinikkette CCN aus den Niederlanden greift bei der Erforschung von Vorhofflimmern zum Berliner System. „Mehr als 50 Kunden von Finnland bis nach Australien nutzen mittlerweile unsere Technologie“, freut sich Friedrich Lämmel. „Digital-Health-Anwendungen erleben überall auf der Welt einen großen Boom, entsprechend weit gefächert ist unsere Kundenbasis." Diese reicht bis Indien: Im Mai kündigte Thryve eine Partnerschaft mit dem Digital-Health-Pionier GOQii an. Dessen Fitnesstracker sollen mit der Berliner Technologie COVID-19-Symptome frühzeitig erkennen.
Digital-Health-Epizentrum Berlin
Dass die Augen der Welt auf die deutsche Bundeshauptstadt gerichtet sind, ist an sich nichts Neues: Berlin gilt als Epizentrum im Bereich Digital Health. Private und öffentliche Institutionen sind hier genauso zu finden, wie die globalen Player Bayer Pharma AG, Sanofi und Pfizer. Forschungseinrichtungen wie die Fraunhofer-Institute FOKUS oder HHI, die Charité – Universitätsmedizin Berlin und die TU Berlin sorgen durch den Einsatz von digitalen Therapien, Künstlicher Intelligenz und Bilderkennung immer wieder für Durchbrüche in der Medizin. Dazu kommen mehr als zehn Acceleratoren und Inkubatoren wie Berlin Healthcare Hub by Pfizer, der Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V., Digital Health Factory und Vision Health Pioneers. Sie alle stehen bei Meet-ups, Bar Camps, Hackathons und Branchenevents wie dem DMEA – Connecting Digital Health, Charité Entrepreneurship Summit; Frontiers Health oder XPOMET© in regem Austausch. Von diesem lebendigen Umfeld profitieren auch Start-ups wie Thryve. „Berlin bietet schlicht die nötige Infrastruktur, die ein schnell wachsendes, international agierendes Unternehmen benötigt”, schwärmt Friedrich Lämmel von den Vorteilen des Standorts.
Diese werden sich auch in Zukunft bezahlt machen. „Die gesamte Digital-Health-Branche hat durch die Corona-Krise einen enormen Wachstumsschub erhalten“, blickt Thryve optimistisch nach vorn: „Wir sind uns sicher: Auch nach der Krise wird es vollkommen normal sein sich um seine eigene Gesundheit digital zu kümmern. Und wer eine echte digitale und proaktive Versorgung aufbauen möchte, der braucht Zugang zu Daten. Und diesen liefern wir.“ Man darf gespannt sein, gegen welche Krankheiten Thryve mit der schlagkräftigen Kombination aus Daten und KI künftig ins Feld zieht.