22 Juni 2023

Ein künstlerischer „Deep Dive“ in den Klimawandel und Maschinelles Lernen.

Im Wedding gibt es keine Korallenriffe. Kaum etwas in diesem Berliner Bezirk erinnert an tropische Strände oder offenes Meer. Lediglich ein paar kleine, schlammige Rinnsale schlängeln sich durch den Kiez. Das Atelier von Marco Barotti liegt in der Nähe eines dieser kleinen Flüsse. Der in Berlin lebende, italienische Medienkünstler ist Artist in Residence des Programms "Kunst der Verschränkung". Ein künstlerisches Residenzprogramm, dass 2022 vom Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD) initiiert und gemeinsam mit der Science Gallery Initiative der TU Berlin durchgeführt wurde. Marco Barottis Atelier befindet sich in einem alten Industriekomplex, in dem früher Nähmaschinen hergestellt wurden. Heute werden hier ganz andere Maschinen genutzt.

„Ich arbeite gerne konzeptionell und nehme mir vor, jedes Jahr eine neue Installation zu entwerfen“, erklärt Marco Barotti. „Meine Themenauswahl erfolgt dabei nach rein subjektiven Kriterien. Alle Eindrücke, Ideen und Erfahrungen eines Jahres verschmelzen in meinem Kopf irgendwann zu einer bestimmten Spezies aus der Tier- oder Pflanzenwelt. Diese Spezies wird dann zu meinem eigentlichen Thema.“  Seine Beschäftigung mit der Luft führte zu der Installation MOSS (Moos). Um das ungehemmte Wachstum der Weltbevölkerung zu veranschaulichen, schuf er ein riesiges Ei, das proportional zur Wachstumsrate der Menschheit wächst oder schrumpft.

„Für die BIFOLD-Residency beschäftige ich mich mit dem äußerst sensiblen Ökosystem der Korallen. Meine Installation CORALS bietet Einblicke in die prekäre Situation von Korallenriffen weltweit und die komplexe wissenschaftliche Forschung dazu,“, so der Künstler.

Marco Barottis Arbeiten werden durch Daten zum Leben erweckt. Er liest Datensätze von verschiedensten Sensoren oder Datenbanken aus, interpretiert oder moduliert sie und nutzt das Ergebnis schließlich, um Teile seiner Installationen in Bewegung zu setzen, Klänge zu erzeugen oder Lichteffekte zu steuern.

CORALS besteht aus verschiedenen weißen, etwa 60 cm hohen Objekten, die auf einem Sandboden stehen. Sie wurden nach dem Vorbild von verzweigten Steinkorallen entwickelt. Marco Barotti griff dafür auf präzise wissenschaftliche Modelle dieser Korallen zurück, die von dem Earth Observatory of Singapore zur Verfügung gestellt wurden, und reproduzierte sie in einem 3D-Drucker. Die Enden der Korallenäste sind mit winzigen schwarzen Lautsprechern besetzt, aus denen lange, flexible, neongelbe Fäden herausragen. Diese künstlichen Polypen werden durch die Vibrationen der Lautsprechermembrane in Bewegung gesetzt. Ihre Auf- und Ab-Bewegung erinnert an Seeanemonen, die in der Strömung treiben.

Die verwendeten Audioelemente kombinieren die Klänge gesunder Korallenriffe mit Aufnahmen schamanistischer Musik aus aller Welt und verwandeln CORALS in einen so genannten „Techno-Schamanen“. Die schamanistische Musik reicht von Heilungsritualen über Gesänge an die Ozeane bis hin zu Todesritualen.

CORALS wird durch verschiedene Softwareelemente gesteuert: Ein Monitor visualisiert die unterschiedlichen Korallenriffzonen der Erde mit einem Fokus auf die so genannten Korallenbleiche-Alarmgebiete. In diesen Meeresgebieten ist eine außergewöhnlich hohe thermische Belastung der Korallen messbar, die in fünf Stufen eingeteilt wird. Diese Stufen reichen von "keine thermische Belastung" bis "weit verbreitete Bleiche".

Die Software wählt einen beliebigen geografischen Fixpunkt zu einem Zeitpunkt zwischen heute und vor etwa 20 Jahren aus und wertet bestimmte Umwelt-Parameter aus. Die verwendeten Daten umfassen Meeresoberflächentemperaturen, Anomalien, Wellen, Strömungen und biologische Daten. Je nach Grad der Korallenbleiche an dem ausgewählten Standort kreieren maschinelle Lernmodelle die spezifische "Atmosphäre" der Installation. Diese speziellen maschinellen Lernmodelle, die Daten in Klang, Licht und Bewegung umwandeln, entwickelte der Künstler in Zusammenarbeit mit BIFOLD-Wissenschaftler*innen. So modulieren die Daten zu Wellen, Strömungen und Temperatur der Meeresoberfläche die Dynamik und die Tonhöhe des Klangs, die Bewegungen der Skulpturen, die Dynamik der Beleuchtungssysteme und die visuellen Effekte. Die biologischen Daten interagieren mit verschiedenen Klangeffekten, die die sich entwickelnden Klanglandschaften verstärken und mehr Variationen innerhalb der Klangerfahrung schaffen.

Zusätzlich zu den BIFOLD-Wissenschaftler*innen kooperierte Marco Barotti intensiv mit der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), einer Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten, sowie mit der National Aeronautics and Space Administration (NASA), der zivilen US-Bundesbehörde für Raumfahrt und Flugwissenschaft, und mit Copernicus, einem Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Kommission und der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Sie alle setzen Satelliten ein, um den Zustand der Ozeane und Riffe kontinuierlich zu überwachen.

Die Installation hinterfragt die Rezeptionsgewohnheiten in Form einer mystischen, dystopischen Klangcollage. Ganz entfernt erinnert die gesamte Installation an einen virtuellen Geigerzähler, der die Bedrohung einer Spezies hörbar macht.

„CORALS ist keine statische Arbeit, sondern "work in progress" – es wird ständig wachsen und weitere Daten integrieren, wie neue Klima- und Riffdaten oder neue schamanistische Gesänge", erklärt Marco Barotti.

Von Berlin aus wird die Installation um die Welt reisen: Berlin, Südkorea und Japan sind die ersten Stationen, an denen eine interessierte Öffentlichkeit – unterstützt durch Künstliche Intelligenz – in die bedrohte Unterwasserwelt der Korallen eintauchen kann – ganz ohne Tauchausrüstung oder wissenschaftliche Vorkenntnisse.

CORALS wird bis zum 7. Juli 2023 im UNI_VERSUM im Hauptgebäude der TU Berlin zu sehen sein. Öffnungszeiten: täglich (werktags), 11:00 - 15:00 Uhr.

BIFOLD

Das Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD) an der TU Berlin entstand 2019 aus zwei Vorläuferprojekten und wird seit dem 1. Juli 2022 dauerhaft vom Land Berlin und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es ist eins von sechs Nationalen KI-Kompetenzzentren. BIFOLD-Wissenschaftler*innen betreiben agile Grundlagenforschung an den Schnittstellen von Big Data Management (BM) und Maschinellem Lernen (ML), den wesentlichen Innovationstreibern von Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI).

Kunst der Verschränkung – Art of Entanglement

BIFOLD hat im Frühjahr 2022 ein Artist in Residence-Programm mit dem Titel „Kunst der Verschränkung“ ausgeschrieben. Aus rund 20 Einreichungen hat eine interdisziplinäre Jury unter der Leitung der österreichischen Kuratorin Dr. Claudia Schnugg den italienischen Medienkünstler Marco Barotti für die Residency ausgewählt.  Ziel des Programms ist es, die künstlerische und wissenschaftliche Perspektive auf Künstliche Intelligenz miteinander zu verbinden.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf BIFOLD veröffentlicht.